Interdisziplinäre Forschung, interdisziplinäre
Praxis?* Anmerkungen zur Identität der Sonderpädagogik als Wissenschaft
Von Franz B. Wember
Die disziplinäre Differenzierung der Wissenschaften ergibt sich aus dem Wachstum der wissenschaftlichen Produktion, veränderten gesellschaftlichen Bedarfslagen und dem Bemühen der wissenschaftlich Tätigen um berufliche Eigenständigkeit. Sonderpädagogik teilt als Subdisziplin der Pädagogik mit dieser den ideellen Gegenstandsaspekt Bildung und Erziehung bei gleichzeitiger Überschneidung des materiellen Gegenstandsbereiches mit pädagogischen und außerpädagogischen Nachbardisziplinen. Da sich Disziplinen um Paradigmen herum konstituieren, ist interdisziplinäre Forschung schwierig und objektwissenschaftlicher Fortschritt vorrangig in intradisziplinärer Forschung zu erwarten. Die Sonderpädagogik sollte ihre Identität in der komplementären Aufgabenstellung von Intervention und Integration finden, d.h. sie sollte sich um die Entwicklung und Erprobung von möglichst wirksamen Maßnahmen bemühen und dabei die Befunde und Methoden der Nachbarwissenschaften kritisch nutzen.
SB
The disciplinary structure of the sciences is a result of increased scientific production, changing demands of society and the researchers’ endeavour towards professional autonomy. Special education, being a subdiscipline of pedagogy, shares education and instruction as the common ideal aspects of study with all educational disciplines, whereas its factual domain of study is approached also by related disciplines within and outside of pedagogy. Scince scientific disciplines are constituted on the basis of epistemological and methodological paradigms, interdisciplinary research is difficult to realize and substantial progress should above all be expected to be made in intradisciplinary research. Special education should find its identity by approaching the two complimentary tasks of intervention and integration: special educators should develop and evaluate most efficient methods of intervention and should use the results and methods of related disciplines in the pursuit of this goal.
Wenn die Professorin ihren Studenten mahnt, ihm mangele es an der rechten Disziplin, dann kann dies vieles bedeuten: Will die Professorin dem jungen Mann mitteilen, ihm fehle es an innerer Zucht und Selbstbeherrschung, an der richtigen Arbeitshaltung? Oder meint sie, der Student habe noch nicht seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten wissenschaftlichen Fach gefunden, welche notwendig ist, um„fachgerecht“ und„diszipliniert“ zu arbeiten. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff der Diszi
* Erweiterte Fassung eines Vortrages, gehalten auf der 32. Arbeitstagung der Dozentinnen und Dozenten für Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländem am 28.9.1995 im Institut für Rehabilitationspädagogik an der Martin-Luther-Universität zu Halle-Wittenberg
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plin nur in der zweiten Bedeutung im Sinne eines wissenschaftlichen Faches verwendet, Disziplin als Begriff für die äußere Untergliederung des wissenschaftlichen Bereiches in spezialisierte und relativ autonome Teilbereiche. Die Erörterungen werden zeigen, daß diese äußere Ordnung der Wissenschaft durchaus Auswirkungen hat auf die innere Ordnung; es gibt nämlich einen relativ engen Zusammenhang zwischen der disziplinären Organisationsform der Wissenschaften und der Art und Weise, wie die einzelnen Disziplinen ihre Aufgaben in Angriff nehmen und ihre Probleme lösen. Dieser enge Zusammenhang soll in der vorliegenden Arbeit auf die Sonderpädaogik bezogen und expliziert werden in dem Versuch, bisherige Theo
rieansätze des Fachgebietes zu ergänzen. Zu diesem Zweck wird zunächst dargestellt, wie die Dynamik der zunehmenden Differenzierung und Spezialisierung in den Wissenschaften zu erklären ist und wie sich die Sonderpädagogik disziplinär einordnen läßt. Eine Erörterung der leitenden theoretischen und methodologischen Vorstellungen, die in der Regel mit einer wissenschaftlichen Disziplin verknüpft sind, wird zeigen, daß der Anspruch der Interdisziplinarität nicht so leicht einzulösen ist, wie dies bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen mag. Es wird sich herausstellen, daß eine additive Kombination disziplinärer Methoden und Theorien oft nicht möglich ist, so daß in der interdisziplinären Forschung wie in der interdis
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995