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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz B. Wember- Interdisziplinäre Forschung, interdisziplinäre Praxis?

ziplinären Praxis Probleme auftauchen, die sich einfachen Lösungen entziehen. Sonderpädagogik, so soll abschließend gezeigt werden, wird ihre Identität als wissenschaftliche Disziplin nur finden, wenn die facheigene und zu Teilen inter­disziplinäre Komplexität der Praxispro­bleme angenommen, ertragen und in den wissenschaftlichen Theorien nicht allzu vereinfachend reduziert wird.

Interdisziplinarität als naheliegende Idee

Die zentrale Idee, die der Forderung nach Interdisziplinarität zugrunde liegt, ist nicht sonderlich kompliziert, sie ist nahe­liegend und durchaus plausibel: Wer sich ein wenig mit Wissenschaftstheorie be­faßt, wird erfahren, daß der Erfolg der wissenschaftlichen Methodik im wesent­lichen darin begründet ist, daß komplexe Probleme unter bestimmten Gesichts­punkten systematisch analysiert und auf grundlegende Probleme zurückgeführt werden, für die dann elementare Lösun­gen erarbeitet werden, die sich hoffent­lich in der Praxis bewähren. Zwei Bei­spiele mögen diese bewährte und ver­gleichsweise erfolgversprechende Vor­gehensweise veranschaulichen: Wenn eine neue Erkrankung bekannt wird, wird diese in der medizinischen For­schung zunächst so wie bereits bekann­te, symptomatologisch ähnliche Krank­heiten behandelt. Man sucht z.B. nach dem die Krankheit auslösenden Faktor und findet vielleicht einen bestimmten Virus. Das komplexe Krankheitsbild wird jetzt reduziert und vereinfacht aufgefaßt als Fall von Virenbekämpfung. Auch hier gibt es Vorwissen und erprobte Metho­den, die hoffentlich bald zum Erfolg füh­ren. Selbst wenn die zu bekämpfende Krankheit eine komplexe und schwerwie­gende Symptomatik im Erleben und Ver­halten der erkrankten Menschen bewirkt, kann die Lösung doch in einem relativ einfachen Medikament liegen, das auf molekularer Ebene wirksam ist und die entsprechenden Viren biochemisch be­kämpft. Ein weiteres Beispiel aus der Sonderpädagogik: Wenn bekannt wird, daß die Ausübung von zwischenmensch­licher Gewalt unter Schülerinnen und

Schülern an Förder- und Sonderschulen zunimmt, wird man dieses Phänomen in der sonderpädagogischen Forschung vielleicht wie andere Interaktionsproble­me auch behandeln. Man wird fragen, welche situationsspezifischen Anreize möglicherweise vorhanden sind und wie die Situation pädagogisch umgestaltet werden kann; man wird versuchen her­auszufinden, ob die Gewaltbereitschaft bei allen oder bei bestimmten Kindern zunimmt, wie diese selbst ihr Verhalten erleben usw. Immer wird versucht, vor­handenes Wissen einzusetzen. Immer wird zwar zielgerichtet und systematisch, aber aspekthaft, zwar vergleichsweise er­folgreich, aber reduktiv und vereinfa­chend gearbeitet. Was liegt näher als die Forderung, angesichts komplexer Probleme die aspekthaften, reduktiven und simplifizierenden Sichtweisen von Einzelwissenschaften miteinander zu kombinieren? Wenn schon vier Augen mehr sehen als zwei, sehen doch auch sicher zwei oder drei wissenschaftliche Disziplinen mehr als nur eine....

Nicht nur in der Sonderpädagogik, aber auch dort(z.B. bei Speck 1988), wird beklagt, der Gelehrte sei durch viele Spe­zialisten ersetzt worden, die Einheit der Wissenschaft(von Hentig 1987, 34) bzw. der Sonderpädagogik(Hartmann 1977) sei verlorengegangen, für komplexe Pra­xisprobleme habe man nur noch frag­mentarische Einzelergebnisse zu bieten, die Sonderpädagogik müsse ihre Ganz­heitlichkeit wiedergewinnen. Solche Kla­gen beschwören die romantische Vorstel­lung einer einheitlichen und ganzheit­lichen Wissenschaft. Wer so argumen­tiert, müßte eigentlich zeigen, wann die beschworene Einheit der Wissenschaft bzw. Ganzheitlichkeit der Sonderpäd­agogik überhaupt existiert hat, wie sie aussah und wie bzw. warum sie verlo­renging. All dies dürfte mehr als schwie­rig sein und soll hier nicht weiter ver­folgt werden. In jedem Fall gilt: Wer Interdisziplinarität fordert, akzeptiert im­plizit bereits die disziplinäre Organisa­tionsform von Wissenschaft, denn sonst müßte er die Auflösung der Einzeldiszi­plinen fordern, und er hält diese zu­gleich irgendwie für defizitär wäre dies nicht so, würde sich die Forderung

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995

nach Interdisziplinarität erübrigen. Das zentrale Problem, das im Zentrum die­ser Abhandlung stehen muß, ist: Lassen sich verschiedene wissenschaftliche Dis­ziplinen überhaupt einheitlich verknüp­fen? Zur Bearbeitung dieses Zentralpro­blems wollen wir uns zunächst eines Teilproblems annehmen, nämlich der Frage, wie und warum die Differenzie­rung und Spezialisierung der Wissen­schaften überhaupt entstanden ist, ein Prozeß, der auch in unseren Tagen fort­gesetzt wird.

Drei Gründe für innerwissen­schaftliche Differenzierung und Spezialisierung

Der unbestreitbare Siegeszug der Wis­senschaften in den letzten zwei Jahr­hunderten hat sich im Plural abgespielt, stellt Jürgen Kocka(1987, 7) fest und vermutet wenig später an gleicher Stel­le:Es muß gute Gründe geben, daß dies so geschah und nicht anders. Mögli­cherweise hat die disziplinäre Ausdif­ferenzierung der Wissenschaft nicht nur die historische Realität, sondern auch die historische Vernunft auf ihrer Sei­te. Im folgenden werden drei Gründe vorgestellt, die maßgeblich zur Ausdiffe­renzierung des wissenschaftlichen Be­reiches beigetragen haben dürften und noch heute zur Dynamik der Wissen­schaftsentwicklung beitragen: das histo­risch belegte Wachstum der wissen­schaftlichen Produktion insgesamt, das sozialpsychologisch verständliche Be­dürfnis der Forscherinnen und Forscher nach Anerkennung und Unterstützung und der beständige Wandel gesellschaft­licher Bedarfslagen in sich wandelnden Gesellschaften.

In erster Linie stellt sich die disziplinäre Organisation der Wissenschaft als histo­risch gewachsene Tatsache dar, die sich aus dem enormen Zuwachs der wissen­schaftlichen Produktion in unserem Jahr­hundert erklären läßt. Neue Disziplinen entstehen nämlich vor allem dann, wenn in einem Bereich die wissenschaftliche Produktivität ansteigt. Solla-Price, der vor mehr als 30 Jahren(dt. 1974) in Little Sience, Big Sience den Weg der Wissenschaftvon der Studierstube zur

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