Franz B. Wember- Interdisziplinäre Forschung, interdisziplinäre Praxis?
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Großforschung‘(so der Untertitel seines Buches) verfolgt hat, konnte für viele naturwissenschaftliche und technische Disziplinen nachweisen, daß deren Entwicklung einem einheitlichen Muster folgt: Eine langsame, aber stetige Zunahme der wissenschaftlichen Produktion in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts geht über in eine Phase exponentiellen Wachstums mit geradezu explosionsartiger Wissenszunahme in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, die ab den 50/60er Jahren bei reduzierter Wachstumsbeschleunigung einer Sättigungsgrenze auf hohem Niveau entgegenstrebt. Solla-Price schätzt die Verdoppelungszeit für das Wissenschaftsvolumen in diesen Fächern auf nur 10 bis höchstens 20 Jahre, d.h. der wissenschaftliche Bereich entwickelt sich in rasantem Tempo und weitaus schneller als andere gesellschaftliche Bereiche. Differenzierung und Spezialisierung ergeben sich bei dermaßen beschleunigtem Wachstum aus der immer größer werdenden Informationsmenge, die ein Mensch allein, mit der Zeit auch ein Team von Forscherinnen und Forschern nicht mehr bewältigen kann. Einerseits droht enzyklopädischer Dilettantismus, so Heid(1989, 781) in einer erziehungswissenschaftlichen Analyse, andererseits Fachidiotentum(783):„Das hier angesprochene Problem läßt sich auf die vereinfachende Formel bringen: von vielem wenig oder Ungenaues oder von wenigem mehr und Genaues zu wissen.“
In der Pädagogik läßt sich ein zwar zeitlich verzögertes, aber in seiner Dynamik ähnliches Entwicklungsmuster erkennen. Macke(1990) hat quantitative und qualitative Aspekte der erziehungswissenschaftlichen Produktion seit 1945 analysiert, indem er alle Dissertationsund Habilitationsschriften erfaßt und inhaltsanalytisch bearbeitet hat, die durch die Hochschuleinrichtungen an die Zeitschrift für Pädagogik als erziehungswissenschaftliche Qualifikationsarbeiten gemeldet worden waren. Die quantitative Entwicklung der Erziehungswissenschaft insgesamt läßt sich in drei große Phasen gliedern: allmähliches Wachstum von jährlich 2 im Jahre 1945 auf etwa 50 Arbeiten in 1965, eine Phase stark be
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schleunigten bis exponentiellen Wachstums in den 60er und 70er Jahren mit einem Höchstwert von 316 abgeschlossenen Qualifikationsarbeiten im Jahre 1977, seitdem ein Rückgang der Produktion, die sich auf etwa 200 Arbeiten pro Jahr stabilisiert(vgl. Abb. 1 bei Macke 1990, 54, der eine differenziertere Phaseneinteilung vornimmt). Folglich gilt auch für die Erziehungswissenschaft, daß die Informationsmenge immer schneller zunimmt, unübersichtlich wird und Spezialisierungen erfordert.„Der Formierungsprozeß der Disziplin stellt sich also als ein Spezialisierungsprozeß dar, der zu einer kontinuierlichen Verlagerung der Gewichte von der allgemeinen Erziehungswissenschaft zu den spezialisierten Teildisziplinen führt,“ konstatiert Macke(1990, 63), die Erziehungswissenschaft„entwickelt sich von einer aufs Allgemeine gerichteten und wenig differenzierten Disziplin zu einer hochgradig spezialisierten Disziplin mit deutlichen Schwerpunktbildungen in den spezialisierten Subdisziplinen.“
Auf die Sonderpädagogik als der kleinsten der von Macke erfaßten Teildisziplinen entfallen zwar nur 4 bis 5% der gemeldeten Abschlußarbeiten, aber im Längsschnitt betrachtet läßt sich die gleiche expansive Entwicklung ausmachen, wie für die Pädagogik insgesamt. Mehr noch: Während für die anderen Teildisziplinen gilt, daß die Produktivität in den 80er Jahren relativ deutlich absinkt, kann für die drei Diszplinen Schulpädagogik, Sozialpädagogik und Sonderpädagogik konstatiert werden, daß hier die Schrumpfung in den letzten Jahren weitaus geringer ausfällt. Offensichtlich hat sich die Produktivität in diesen drei vornehmlich praxisbezogenen Disziplinen auf hohem Niveau stabilisieren können (vgl. Macke 1990, 59-61), wie im Bereich der sonderpädagogischen Forschung die Übersichten von Helmut von Bracken(1980), Kanter(1985) oder Langfeldt& Wember(1994) belegen. Dies führt zu einem zweiten Grund für zunehmende innerwissenschaftliche Spezialisierung, den wandelnden gesellschaftlichen Bedarfslagen. Offensichtlich folgt die Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Bereiches
nicht nur innerwissenschaftlichen Gesetzen, sondern reagiert auch auf außerwissenschaftliche Veränderungen, insbesondere auf veränderte gesellschaftliche Bedarfslagen. Im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich sind wir gewohnt, daß neue Disziplinen entstehen, weil bestimmte Bereiche plötzlich als besonders wichtig bewertet werden, —man beachte nur den Aufschwung ökologisch orientierter Teildisziplinen im letzten Jahrzehnt,— oder weil gänzlich neue Bereiche entstehen, in denen gesellschaftlicher Handlungsbedarf auszumachen ist,— in unserem Jahrhundert z.B. die Nukleardiagnostik im medizinischen Bereich oder die Nukleartechnik im Energiesektor. Das gilt gleichermaßen für die Pädagogik: Die traditionellen Subdisziplinen Systematische Pädagogik, Sozialpädagogik, Berufspädagogik, Historische und Vergleichende Pädagogik, Vorschul- und Schulpädagogik, Erwachsenenpädagogik und Sonderpädagogik werden ergänzt durch neuere Fachrichtungen, die erst in unserem Jahrhundert entstanden sind als Antworten auf aktuelle pädagogische Bedarfslagen. Beispielhaft seien genannt die interkulturelle Pädagogik, die erst infolge wachsender Arbeitsmigration mit Familiennachzug notwendig wurde, die Verkehrserziehung, die als Reaktion auf weitgehende Automobilisierung des Personen- und Güterverkehrs und den daraus resultierenden weitreichenden Veränderungen in den Lebenswelten der Kinder notwendig wurde oder die Sexualpädagogik, die Ausdruck eines veränderten Verständnisses und einer höheren Bewertung menschlicher Sexualität ist(vgl. Lenzen 1994).
Ein dritter Faktor sei nicht verschwiegen, welcher die Differenzierung und Spezialisierung im wissenschaftlichen Bereich vorantreibt. Er ist innerwissenschaftlicher Art und in den Personen begründet, die Wissenschaft treiben. Forscherinnen und Forscher sind nämlich Menschen und als solche bestrebt, berufliche Eigenständigkeit und zugleich soziale Anerkennung zu gewinnen. Bei der Verfolgung beider Ziele erweist sich die arbeitsteilig-disziplinäre Organisation des Wissenschaftsbetriebes als
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995