Franz B. Wember
Interdisziplinäre Forschung, interdisziplinäre Praxis?
zweckmäßig. Welch bessere Methode gibt es, berufliche Autonomie zu erlangen, als die Verselbständigung in einer eigenen Disziplin, die einen bestimmten Realitätsausschnitt als ihren Objektbereich reklamiert, eigene Arbeitsmethoden entwirft, eine eigene Tradition entwickelt, sich in eigenen Institutionen vergegenständlicht, materielle Ressourcen einwirbt und ideelle Ressourcen bereithält? Nur anerkannte Disziplinen genießen langfristig allgemeine gesellschaftliche Wertschätzung und dementsprechend mehr oder minder ausreichende materielle Unterstützung. Das gilt erst recht für die kollegiale Anerkennung des einzelnen Wissenschaftlers: über Qualifizierungen und damit Karrieren wird innerhalb der Disziplinen entschieden. Hier müssen die angehenden Forscherinnen und Forscher sich bewähren, nicht etwa in interdisziplinären Projekten. Dies gilt auch, wenn eine Disziplin den Großteil ihres Nachwuchses aus anderen Disziplinen rekrutiert, wie dies für die Pädagogik Helm, Tenorth, Horn & Keiner(1990) festgestellt haben. Wer die Geschichte der Sonderpädagogik studiert, kann unschwer feststellen, daß bei deren Gründung und allmählicher Konsolidierung um die Jahrhundertwende alle drei Faktoren innerwissenschaftlicher Differenzierung und Spezialisierung eine Rolle spielten. Berufsständische Bestrebungen waren ebenso im Spiele wie das Bemühen um eine verbesserte schulische Förderung behinderter und benachteiligter Kinder als Reaktion auf den gestiegenen gesellschaftlichen Qualifikationsbedarf(vgl. z.B. Möckel 1988; Solarova 1983), und die Entwicklung der neu entstehenden Disziplin war begleitet von einer Zunahme relevanten Wissens. Andererseits gibt es für die faktisch vorzufindende Präferenz intradisziplinärer Qualifizierung nicht nur gesellschaftliche und soziale, sondern auch erkenntnistheoretische und forschungsmethodologische Gründe, auf die im übernächsten Abschnitt noch zurückzukommen sein wird. Zunächst soll versucht werden, die Sonderpädagogik so, wie sie sich derzeit darstellt, in den Kanon der wissenschaftlichen Disziplinen einzuordnen.
Disziplinäre Einordnung der Sonderpädagogik
Vorläufig soll ein einfacher Begriff von wissenschaftlicher Disziplin akzeptiert werden: Eine Disziplin sei gleichzusetzen mit einem historisch gewachsenen Fach. Dieser Begriff wird zwar im nächsten Abschnitt noch zu problematisieren und zu ergänzen sein, aber für eine disziplinäre Einordnung der Sonderpädagogik, so wie sie sich derzeit faktisch bzw. in der facheigenen Literatur darstellt, reicht er aus, wenn in Anlehnung an Heckhausen(1987, 131) eine Unterscheidung getroffen wird, nämlich die zwischen materiellem Gegenstandsbereich und ideellem Gegenstandsaspekt einer wissenschaftlichen Disziplin. Der materielle Gegenstandbereich ist der Objektbereich eines Faches, der Ausschnitt von Realität, der zum Erkenntnisgegenstand gemacht wird; der ideelle Gegenstandsaspekt betrifft das erkenntnisleitende Interesse, die Zielsetzung, unter welcher der Objektbereich untersucht wird. Diese Unterscheidung erweist sich als hilfreich, wenn man wissenschaftliche Disziplinen hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten analysieren will. Bei Entwicklungspsychologie und Pädagogik beispielsweise überschneidet sich der materielle Gegenstandsbereich, denn beide Fächer studieren das Erleben und Verhalten von Kindern, aber unter unterschiedlichen ideellen Gegenstandsaspekten: Die Entwicklungspsychologie will das Erleben und Verhalten in seiner allgemeinen Ent
Aussagen über Wirklichkeit in beschreibender, erklärender und/oder begründeter Absicht
Hilfe bei der Entfaltung der intellektuellen Kräfte durch Vermittlung lebensbedeutsamer Inhalte und brauchbarer Methoden des geistigen Arbeitens
Jugendlicher
Sonderpädagogik
Theorie und Praxis
Bildung und Erziehung — behinderter Kinder und
— von Behinderung bedrohter Menschen jeglichen Lebensalters
— in besonders schwierigen Situationen und Lebenslagen
— in dysfunktionalen
Kind-Umwelt-Systemen
wicklung beschreiben, erklären und vorhersagen, die Pädagogik hingegen will spezifische, pädagogisch herstellbare Bedingungen und Maßnahmen von Bildung und Erziehung beschreiben und erklären, welche dem Kind bei seiner Entwicklung und Selbstwerdung helfen können. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Verhaltensgestörtenpädagogik verbinden gemeinsame ideelle Gegenstandsaspekte und materielle Gegenstandsbereiche, denn beide Disziplinen wollen Veränderungen des Erlebens und Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen in besonders schwierigen Lebenslagen bewirken, dennoch unterscheidet sich der Personenkreis der Hilfebedürftigen in Teilen(Gegenstandsbereich) sowie die Methoden und Ziele der Verhaltensbeeinflussung (Gegenstandsaspekt). Nicht alle verhaltensgestörten Kinder besuchen den Psychiater und nicht alle Kinder und Jugendlichen, die sich in psychiatrische Behandlung begeben, werden sonderpädagogisch gefördert. Andererseits erfahren die Kinder, die sowohl eine Integrationsklasse bzw. Sonderschule besuchen als auch psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen, jeweils unterschiedliche Methoden der Förderung. Täglich anzuwendende erzieherische Maßnahmen sind in aller Regel nicht Bestandteil der psychiatrischen Praxis, wohl aber Verfahren der medikamentösen Therapie, die nur den Ärzten vorbehalten sind.
Abbildung 1 zeigt im Überblick das Selbstverständnis der Sonderpädagogik, wie es bereits von Bracken(1964) grundgelegt hat und wie es weiter ausgearbei
die beobachtbare Wirklichkeit aktueller Maßnahmen
Hilfe bei der Entfaltung der emotionalen und sozialen Kräfte durch Förderung individuell und zeitgleich gesellschaftlich angemessener Weisen des Erlebens und Verhaltens
Abb. 1: Theorie und Praxis als materieller Gegenstandsbereich und Bildung und Erziehung als
ideelle Gegenstandsaspekte der Sonderpädagogik.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995
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