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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz B. Wember

tet in facheigenen Entwürfen der Gegen­wart(z.B. bei Bleidick 1985a; Kanter 1977, 1985; oder Tent 1985) seinen Aus­druck findet. Sonderpädagogik wird defi­niert als eine wissenschaftliche Diszi­plin, die auf die Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung ausgerichtet ist. Greifen wir die soeben getroffene Unter­scheidung auf, wird deutlich, daß sich Theorie und Praxis auf den materiellen Gegenstandsbereich beziehen. Theorien sind geordnete Zusammenstellungen von Aussagen über Teile der Wirklichkeit, die in beschreibender, erklärender oder begründender Absicht formuliert wer­den. Praxis ist das Gesamt aller aktuel­len Maßnahmen, die in der Wirklich­keit beobachtbar sind. Nun bearbeitet die Sonderpädagogik nicht beliebige Theorie oder irgendeine Praxis, sondern nur solche von Bildung und Erziehung. Hier ist der ideelle Gegenstandsaspekt angesprochen, der sich vereinfacht so konkretisieren läßt: Bildung umfaßt alle Maßnahmen der Hilfe bei der Entfal­tung der intellektuellen Kräfte eines Kin­des, indem ihm lebensbedeutsame In­halte und brauchbare Methoden der gei­stigen Arbeit vermittelt werden. Erzie­hung umfaßt alle Maßnahmen der Hilfe bei der Entfaltung der emotionalen und sozialen Kräfte eines Kindes durch För­derung individuell und zugleich gesell­schaftlich angepaßter Weisen des Er­lebens und Verhaltens. Über die hier vorgelegten, pragmatisch gemeinten, eine Jahrhunderte andauern­de Diskussion verkürzende Arbeitsde­finitionen von Bildung und Erziehung ließe sich trefflich streiten(vgl. Schwenk 1989a, b; Heid 1994; Langewand 1994), hier sei lediglich darauf hingewiesen, daß sich der Wortbestandteilsonder in Sonderpädagogik erneut auf den ma­teriellen Gegenstandsbereich bezieht. Sonderpädagogik untersucht nicht be­liebige Theorien und Praxisformen von Bildung und Erziehung, sondern bei behinderten Kindern und Jugend­lichen, wie es in älteren Publikatio­nen heißt, bei behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen jeglichen Lebens­alters, wie gelegentlich unter Auswei­tung der Zielgruppe formuliert wird,

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- Interdisziplinäre Forschung, interdisziplinäre Praxis?

bei Kindern in besonders schwieri­gen Situationen und Lebenslagen, wie Kleber(1980) unter Berufung auf den sozialwissenschaftlichen Situations­begriff vorgeschlagen hat, in dysfunktionalen Kind-Umwelt-Sy­stemen, wie neuerdings aus system­theoretischer Sicht(z.B. bei Sander 1988 oder Speck 1988) argumentiert wird.

Paul Moors vielzitierter Satz, Heilpäd­

agogik sei zuallererst Pädagogik und

nichts anderes, wird nun verständlich als Verweis auf den gemeinsamen ideel­len Gegenstandsaspekt, den die Sonder­pädagogik mit der Pädagogik insgesamt und mit allen ihren Teilgebieten gemein­sam hat, den Aspekt der Bildung und

Erziehung. Dementsprechend findet sich

die Sonderpädagogik als eine traditio­

nelle pädagogische Subdisziplin in Ab­bildung 2 als echte Teilmenge der Päda­gogik dargestellt; sonderpädagogische

Fragen und Probleme sind immer Fra­

gen und Probleme pädagogischer Art,

sie betreffen immer die Bildung und Er­ziehung von Menschen. Überschneidun­gen mit den nichtpädagogischen Nach­

Sozial­

bardisziplinen wie der klinischen und der pädagogischen Psychologie, der Pädiatrie oder der Erziehungssoziologie ergeben sich aus dem teilweise gemein­sam geteilten Gegenstandsbereich. Alle diese Disziplinen haben u.a. auch mit behinderten und von Behinderung be­drohten Kindern und Jugendlichen, mit Menschen in schwierigen Situationen und Lebenslagen usw. zu tun, nur nicht aus primär pädagogischen Beweggrün­den heraus. Kurzum: Mit allen pädagogi­schen Disziplinen verbindet die Sonder­pädagogik die gemeinsame Aufgaben­stellung, mit allen anderen Nachbardis­ziplinen gemeinsame Problemlagen.

Man mag die religiös-caritativen Mo­mente, die zu einer systematischen Bil­dung und Erziehung für Behinderte ge­führt haben(vgl. Kobi 1984) und die Überwindung medizinischer Sichtweisen (vgl. Hartmann 1984) betonen, fachlo­gisch betrachtet ist und bleibt die Son­derpädagogik Teil der Pädagogik. Die­ser theoretischen Einordnung entspricht jedoch nicht ihr faktischer Integrations­grad. Sonderpädagogen und Sonder­pädagoginnen tragen vergleichsweise

Pädagogik

pädagogik

Vorschul­pädagogik

Sonder­pädagogik

Schul­pädagogik

Berufs­

pädagogik

Abb. 2: Sonderpädagogik als echte Teilmenge der Pädagogik mit Überschneidungen zu ausgesuch­

ten Nachbardisziplinen.

Die Grafik zeigt die disziplinäre Einordnung der Sonderpädagogik und verdeutlicht an ausgesuchten Beispie­len Überschneidungen zu pädagogischen und außerpädagogischen Disziplinen bzw. Subdisziplinen. Die Darstellung ist nicht vollständig, denn es ließen sich durchaus weitere, hier nicht gezeigte Überschneidungen zu anderen Fächern und Subdisziplinen innerhalb und außerhalb der Pädagogik aufzeigen.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995