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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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selten auf allgemeinpädagogischen Kon­gressen vor, sie bleiben meist lieber un­ter sich. Roeder, der 1990 per Zitations­analyse die Kommunikation innerhalb und zwischen den pädagogischen Teil­disziplinen untersucht hat, mußte fest­stellen, daß die Sonderpädagogik eine besonders abgeschlossene Subdisziplin darstellt. Zwar gab es in allen Fächern Kommunikationsrituale und Zitations­zirkel, aberkeine Überlagerung zwi­schen der Sonderpädagogik und den üb­rigen Teildisziplinen(Roeder 1990, 661), wenn die vier meistzitierten Zeit­schriften analysiert wurden. Sonderpäd­agogen zitieren vorzugsweise einander, und sie veröffentlichen fast ausschließ­lich in sonderpädagogischen, in selte­nen Ausnahmefällen in pädagogisch-psy­chologischen Fachschriften. Daß es für dieses Phänomen nicht nur soziale Grün­de gibt, wird eine erkenntnistheoretische Problematisierung des Begriffs der wis­senschaftlichen Disziplin zeigen.

Über Disziplinen und diszipliniertes Arbeiten

Kann man, wie wir das bisher getan haben, wissenschaftliche Disziplinen überhaupt mit den historisch gewachse­nen Fächern gleichsetzen? Mittelstraß (1987, 152) wendet ein, der Fächerka­talog des Hochschulverbandes zähle mehr als 4.000 Einträge, eine zu große und unübersichtliche Zahl, zudemsich dabei manches vergängliche Forschungs­thema zum Fach geadelt sieht und die Suche nach Synonyma nicht ohne Er­folg bleibt(ebd.). Heckhausen(1987, 130-131) verweist darauf, daß wissen­schaftliche Fächer nicht selten aus insti­tutionssoziologischen Bedürfnissen her­aus entstehen, gewissermaßen als histori­sche Zufälle. Für den Begriff der wis­senschaftlichen Disziplin sollte es jedoch erkenntniskritische Kriterien geben (Heckhausen 1987, 132):Was die Dis­ziplinarität eines Faches ausmacht, ist kurz gesagt das ‚theoretische Integra­tionsniveau, auf das das materiale Feld der Erfahrungsgegenstände eingegrenzt wird, um die Phänomene und Ereignis­se der ausgewählten Gegenstandsaspekte

Franz B. Wember ­

in Theorieentwürfen, Als-ob-Modellen oder anderen Arten von Rekonstruktion faßlich und für das Denken operabel zu machen, um letztlich die betreffenden Sachverhalte der Wirklichkeit zu verste­hen, zu erklären, vorherzusagen, prak­tisch zu nutzen, zu ändern. Was macht nun, erkenntnistheoretisch betrachtet, ei­ne Disziplin zur Disziplin? Sind es die Gegenstände, die Methoden oder die Theorien?

Beginnen wir bei den Forschungsgegen­ständen. Zwar hat jede Disziplin einen bestimmten materiellen Gegenstandsbe­reich und spezifische ideelle Gegen­standsaspekte(s.o.), aber beides hat sie in der Regel nicht exklusiv für sich, son­dern teilt sie mit anderen wissenschaftli­chen Disziplinen. Die erkenntnistheore­tische Eigenständigkeit der Sonderpäd­agogik beispielsweise ist bestenfalls durch die Kombination des speziellen Gegenstandsbereiches mit dem pädago­gischen GegenstandsaspektBildung und Erziehung legitimierbar, und selbst dann ist die Grenze zur Sozialpädagogik nur schwer zu ziehen(vgl. Schmidtke 1982). Grundsätzlich sind Gegenstands­bereich und Gegenstandsaspekt also ge­eignete Kriterien, um wissenschaftliche Disziplinen miteinander zu vergleichen, aber ungeeignet, um Eigenständigkeit zu begründen.

Erhalten Disziplinen ihre Selbständig­keit durch facheigene Forschungsme­thoden? Hartmut von Hentig(1987, 43) argumentiert zwar, gerade die Metho­den brächten die Uneinheitlichkeit der Wissenschaften hervor, aber diese Un­einheitlichkeit ist schon innerhalb einer Disziplin zu erkennen. Am Beispiel der Erziehungswissenschaft verdeutlicht: Geisteswissenschaftliche und empiri­sche Pädagogik haben ein und dieselbe Disziplin in zwei getrennte Erkenntnis­kulturen geteilt(von Hentig 1987, 43). Andererseits gibt es, oberflächlich be­trachtet, typisch geisteswissenschaftliche Methoden im Gegensatz etwa zu typisch empirischen oder gar typisch biologi­schen Methoden, ganz zu schweigen von typisch molekularbiologischen bzw. biochemischen Methoden. Krüger(1987, 112) hat zu Recht darauf hingewiesen, daß man zwar mit dem Hinweis auf

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995

Interdisziplinäre Forschung, interdisziplinäre Praxis?

Methoden im günstigen Falle gewisse Schwerpunkte des formalen Vorgehens in verschiedenen Disziplinen hervorhe­ben kann, nicht jedoch Disziplinen von­einander abgrenzen. Zum einen ergibt sich eine gewisse Einheit vieler Diszi­plinen, wenn man Methoden sehr allge­mein definiert. Hermeneutisches Verste­hen ist ein wenig kontrolliertes, em­pirisch-analytisches Erklären eine stär­ker kontrollierte Variante des hypothe­tisch-deduktiven Schließens(Wember 1991a), mehr noch:Deduziert wird überall, wo logische Zusammenhänge ausgenutzt werden(Krüger 1987, 112). Im aktuellen Prozeß der sonderpädago­gischen Forschung sind beide Metho­denvarianten oft genug aufeinander an­gewiesen, weil sich die menschliche Be­deutung bestimmter statistischer Daten der Forscherin oft erst per einfühlendem Verstehen erschließt und umgekehrt Ver­stehensversuche auf vielfältiges analy­tisches Wissen angewiesen sind. Zum anderen werden sogar spezielle Metho­den wie etwa die molekulare Analyse von Kohlenstoffisotopen zwar in einer Disziplin, hier der Nuklearphysik, ent­wickelt, gehören wegen ihrer vielfälti­gen Verwendungsmöglichkeiten mit der Zeit jedoch auch zum Instrumentarium anderer, mit der Physik nicht einmal verwandter Disziplinen.Allgemein ge­sprochen, fehlt es im Bereich der Rede von Methoden völlig an einer übersicht­lichen Ordnung, ja auch nur übersichtli­chen Größenordnung, kritisiert Krüger (1987, 112) und fährt fort:So spricht man auf einer hohen Stufe der Verallge­meinerung z.B. von hypothetisch-de­duktiver Methode, auf niedriger Stufe etwa von der C'*-Methode zur Alters­bestimmung von Objekten. Wie hoff­nungslos man in dieser Sache daran ist, läßt sich schon mit dem Hinweis illu­strieren, daß man in der Physik oder in der Geologie ebenso wie in der Ge­schichtswissenschaft hypothetisch-de­duktiv vorgehen und daß man in allen drei Wissenschaften die C!*-Methode einsetzen kann. Irgendwo bei einem mittleren Allgemeinheitsgrad müßte man wohl nach dem Katalog zueinan­der disjunkter Methoden suchen, die Dis­ziplinen oder auch Familien verwandter

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