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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz B. Wember- Interdisziplinäre Forschung, interdisziplinäre Praxis?

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Disziplinen voneinander abgrenzen kön­nen. Hierzu kenne ich keinen Vorschlag. Vielmehr sehe ich mich umgekehrt von der Beobachtung überwältigt, daß jede Methode in verschiedenen Disziplinen (freilich nicht jede in allen) vorkommt und daß die Methoden insgesamt ein z.T. überlappendes, z.T. hierarchisches Geflecht bilden. Sie können also die Dis­ziplinologie nicht begründen.

Erhalten Disziplinen ihre Eigenständig­keit durch facheigene Theorien? Hier sind wir einer Lösung nahe, denn offen­sichtlich und per definitionem(vgl. die Ausführungen zur Sonderpädagogik in Abschnitt 3) streben die einzelnen Fä­cher unterschiedliche Theorien an. Aber sind diese Theorien immer fachspezi­fisch und selbständig? Pädagogische Theorien der Lernmotivation sollten zwar möglichst alle motivational rele­vanten Lernbedingungen spezifizieren, die pädagogisch beeinflußbaren beson­ders hervorheben und Möglichkeiten der pädagogischen Förderung aufzeigen, aber damit unterscheiden sie sich nur graduell von Motivationstheorien der pä­dagogischen Psychologie. Pädagogische Theorien der familiären Sozialisation sollten zwar möglichst alle für das schu­lische Lernen relevanten Faktoren der familiären Umwelt spezifizieren, die pä­dagogisch beeinflußbaren besonders her­vorheben und Möglichkeiten der positi­ven pädagogischen Einflußnahme auf­zeigen, aber damit unterscheiden sie sich nur graduell von Sozialisationstheorien, wie sie in der Erziehungssoziologie auf­gestellt und geprüft werden. Betrachtet man desweiteren die Theorieimporte etwa von systemischen Theorieansätzen oder Informationsverarbeitungsmodellen in eine Vielzahl von erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, wird endgültig klar, daß auch objekt­wissenschaftliche Theorien die diszipli­näre Eigenständigkeit nicht legitimie­ren können.; Was ist zu tun, wenn die Forschungs­gegenstände, die erkenntnisleitenden In­teressen, die Forschungsmethoden und die Theorien allein und jeweils für sich genommen nicht ausreichen, die Eigen­ständigkeit von Disziplinen zu begrün­den? Könnte die Lösung des Problems

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in einer Kombination einiger dieser Fak­toren vermutet werden? Kuhn(1967) hat solche Kombinationen vor vielen Jah­ren Paradigmen genannt und deren Aus­wirkungen auf das wissenschaftliche Forschen und den Prozeß wissenschaft­licher Entwicklung eingehender unter­sucht.

Bislang wurde betont, daß Disziplinen als soziale Gemeinschaften von Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftlern ent­stehen. Ein Paradigma stiftet nach Kuhn solche wissenschaftlichen Gemeinschaf­ten(1974, 187):Ein Paradigma ist das, was den Mitgliedern einer wissenschaft­lichen Gemeinschaft gemeinsam ist, und umgekehrt besteht eine wissenschaftli­che Gemeinschaft aus Menschen, die ein Paradigma teilen. Diese zirkuläre De­finition betont die soziale Bedeutung von Paradigmen, erklärt aber noch nicht, was diese eigentlich sind. Kuhn verwendet den Begriff des Paradigmas in zweifa­cher Bedeutung(1974, 186):Einerseits steht er für die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw., die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden. Anderer­seits bezeichnet er ein Element in dieser Konstellation, die konkreten Problemlö­sungen, die, als Vorbilder oder Beispie­le gebraucht, explizite Regeln als Basis für die Lösung der übrigen Probleme der ‚normalen Wissenschaft ersetzen können.

Paradigmen sind also Konstellationen von gemeinsam geteilten Grundüberzeu­gungen und zugleich gemeinsam geteil­te Beispiele für besonders gelungene For­schung, für exemplarische wissenschaft­liche Leistungen der Vergangenheit. Beide Bedeutungsvarianten hängen auf engste zusammen, wie sich am Beispiel der operanten Lernpsychologie leicht zei­gen läßt(Wember 1987): B.F. Skinner hat zum einen für bestimmte theoreti­sche Orientierungen geworben, die er für besonders erfolgversprechend hielt, z.B. die Unterscheidung von operantem und respondentem Verhalten, die Ver­nachlässigung mentaler Konstrukte zu­gunsten einer intensiven und hoch­kontrollierten Beobachtung des Verhal­tens, die Definition aller zentralen Va­riablen eines Experiments in intersub­

jektiv beobachtbarer Weise und die Kon­zeption des wechselseitig interdepen­denten Verhältnisses zwischen Organis­mus und Umwelt, der einerseits auf sei­ne Umwelt reagiert, andererseits und zugleich jedoch durch seine Reaktionen seine Umwelt modifiziert, sich eine pas­sendere Umwelt schafft. Skinner hat je­doch mit dem klassischen Aufbau des operanten Lernexperiments, mit Skin­ner-Box und kumulativem Protokollier­gerät gleichzeitig gezeigt, wie diese theo­retischen Grundüberzeugungen in prak­tische Forschung umgesetzt werden kön­nen, und er selbst hat zahlreiche Bei­spiele für erfolgreiche Forschung veröf­fentlicht, Grundlagenforschung wie an­gewandte Forschung. Es ist zu vermu­ten, daß die große Breitenwirkung der operanten Lernpsychologie ohne solche beispielgebende Forschung nicht zustan­de gekommen wäre. Theoretische Postu­late allein überzeugen in der Wissen­schaft nur selten, erfolgreiche Forschung fast immer.

Die Dynamik des wissenschaftlichen Fortschritts stellt Kuhn sich als einen Wechsel vonnormaler Wissenschaft undwissenschaftlichen Revolutionen vor. Phasen normaler Wissenschaft sind dadurch gekennzeichnet, daß in der Dis­ziplin ein Paradigma akzeptiert wird. Die Grundlagen des Faches werden nicht infrage gestellt, auf der Basis des Para­digmas kann produktiv geforscht wer­den, d.h. auf objektwissenschaftlicher Ebene wird Wissen erarbeitet. Mit der Zeit stellen sich jedoch Unzulänglich­keiten heraus. Das bislang akzeptierte Paradigma wird zunächst kritisiert, dann zunehmend hinterfragt und verliert all­mählich an Akzeptanz. Es wird immer klarer gesehen, daß das Paradigma ei­nerseits Probleme lösen hilft, anderer­seits für bestimmte Probleme und deren Lösung nicht geeignet ist. Kuhn nennt solche Phasen wissenschaftliche Revo­lutionen, da sie in der Regel mit dem abrupten Ersetzen des alten durch ein neues Paradigma enden. In revolutio­nären Phasen, in denen die Grundlagen des Faches reflektiert und problematisiert werden, kann es mangels akzeptiertem Paradigma zwar keinen objektwissen­schaftlichen, wohl aber erkenntnistheo­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995