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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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retischen und methodologischen Fort­schritt geben. Insgesamt ergänzen nor­malwissenschaftliche und revolutionäre Phasen also einander im Prozeß des wis­senschaftlichen Fortschritts. Wissenschaftliche Revolutionen beenden erkenntnistheoretisch produktive Phasen, in denen die Grundlagen der Disziplin problematisiert und neu bestimmt wer­den, normalwissenschaftliche Phasen sind objektwissenschaftlich produktive Phasen, weil in diesen Probleme gelöst werden, die sich im Gegenstandsbereich einer Disziplin ergeben. Wenn Diszipli­nen sich als wissenschaftliche Gemein­schaften darstellen, die durch Paradig­men konstituiert werden, ist objektwis­senschaftlich produktive Forschung dis­ziplinierte Forschung im Rahmen eines Paradigmas, also intradisziplinäre For­schung im engeren Sinne. Die Sonder­pädagogik allerding befindet sich wie die Pädagogik überhaupt eher in ei­nem vorparadigmatischen Zustand. Blei­dick hat zunächst vier(1977), später drei(1985b) Paradigmen unterschieden, Müller(1991) fast ein Dutzend. Dieser Zustand wird unter Pädagoginnen und Pädagogen gelegentlich unkritisch hin­genommen, manchmal sogar mit Wohl­gefallen betrachtet. Das eigene Fach wird alstheoretisch offen odermultipara­digmatisch apostrophiert. Unter solchen Prämissen kann sich ein jeder und eine jede im Recht fühlen, erkenntniskritische und methodologische Diskussionen kön­nen problemlos unterbunden werden bzw. sind von vornherein obsolet. War­um über Orientierungen und Methoden streiten? Pädagogik und Sonderpädago­gik sind doch theoretisch offen, vorpara­digmatisch, multiparadigmatisch! Solch eine Einstellung mag auf den ersten Blick tolerant erscheinen, sie verdeckt genauer betrachtet Probleme in For­schung und Praxis, die auch in der Sonderpädagogik besser der bewußten Behandlung erhalten bleiben sollten.

Probleme interdisziplinärer Forschung und Praxis

Weiter oben wurde bereits darauf hinge­wiesen, daß es Wissenschaft als soziales

Franz B. Wember ­

System betrachtet keinen interdiszi­plinären Qualifikationsdruck gibt, weil die idellen Meriten und die materiellen Ressourcen intradisziplinär verteilt wer­den. Betrachtet man Wissenschaft als fach­liches System, wird deutlich, daß Dis­ziplinen relativ geschlossene weltanschau­liche besser: objektanschauliche und sprachliche Gemeinschaften bilden. Bei interdisziplinärer Zusammenarbeit tau­chen deswegen immer wieder Verstän­digungsschwierigkeiten auf, die auf un­terschiedliche Grundüberzeugungen, un­terschiedliche methodische Präferenzen und damit verbundene, unterschiedliche sprachliche Konventionen zurückgehen. Lose Kooperation, bei der die beteilig­ten Disziplinen ihre Sicht- und Arbeits­weisen sowie Sprachregelungen neben­einanderstellen und nicht hinterfragen, mag vergleichsweise einfach zu reali­sieren sein. Wirkliche fachübergreifende Zusammenarbeit erfordert mehr, näm­lich das Wandern zwischen objektan­schaulichen Welten, das Offensein für andere Methoden und das Überschrei­ten sprachlicher Grenzen, kurzum: das Überwinden von biographisch erworbe­nen Beschränkungen im eigenen Denken und Tun. Eine einfache additive Kom­bination disziplinärer Sichtweise ist in der Regel nicht möglich, wie ein einfa­ches Beispiel zeigen kann. Wer ein inte­gratives sonderpädagogisches Interven­tionsprogramm bei Verhaltensstörungen anstrebt, kann psychoanalytische und verhaltensmodifikatorische Theoriean­sätze nicht einfach addieren; schließlich wiedersprechen sich diese in weiten Tei­len, erklären bestimmte Phänomene gänz­lich anders und führen nicht selten zu geradezu gegensätzlichen Handlungs­empfehlungen. Dabei sind beides noch psychologische Theorieansätze; die Auf­gabe wird keineswegs leichter, wenn zu­sätzlich soziologische oder medizinische Modellvorstellungen eingebracht werden. Das Beispiel führt uns zur oft beschwore­nen interdisziplinären Praxis in Sonder­erziehung und Rehabilitation. Ange­sichts komplexer, multifaktoriell beding­ter, multidimensional imponierender Be­hinderungen stoßen die Expertinnen und Experten verschiedenster Disziplinen schnell an facheigene Grenzen. Gefor­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995

Interdisziplinäre Forschung, interdisziplinäre Praxis?

dert wird die enge, einander ergänzen­de, oft ganzheitlich sich verstehende Zu­sammenarbeit über die engen Grenzen der Fächer hinweg. Jörg Schlee hat die­se in der Sonderpädagogik weit verbrei­tete Forderung wiederholt kritisiert(vgl. Schlee 1982; 1984), indem er darauf hin­gewiesen hat, daß hinter dieser Forde­rung die vereinfachende Vorstellung steckt, die einzelnen Theorien, Metho­den und disziplinären Sichtweisen lie­ßen sich so zu einem stimmigen Bild zusammenfügen wie die Teile eines Puzzles(Schlee 1982, 234):Das Inein­anderfügen von Teilaspekten zu einem Gesamtbild klappt zwar bei einem Puzzlespiel.(...) Aber es lassen sich nicht die Positionen und Sichtweisen von verschiedenen Theorien zu einer ge­schlossenen Gesamttheorie komponie­ren. Die Pluralität der Theorien führt nicht zu einer pluralistischen Totaltheo­rie. Theorien, welche sich um unter­schiedliche Annahmen gruppieren, wel­che mit unterschiedlicher Begrifflichkeit arbeiten, welche sich unterschiedlichen Paradigmen verpflichtet fühlen und wel­che innerhalb ihrer Disziplinen in je­weils bestimmten Zusammenhängen er­funden und entwickelt worden sind, las­sen sich nicht wie Puzzleteile oder Druckknöpfe miteinander verknüpfen. Wissenschaftliche Theorien, so hatten wir weiter oben gezeigt, entstehen u.a. über akzeptierte Paradigmen, und sie werden geprüft mittels paradigmatisch­disziplinärer Forschung, d.h. Paradig­men führen zu Familien von verwand­ten Theorien, die in einer gemeinsamen Forschungstradition stehen.Theorie und Gegenstand bestehen nicht unab­hängig voneinander, betont Schlee (1982, 234),sondern sie bedingen sich gegenseitig. So wie jede Theorie von ihrem Gegenstand geprägt wird, so ist sie zugleich an der Konstruktion des Ge­genstandes beteiligt. Behinderungen mit den Theorien unterschiedlicher Diszi­plinen beschreiben und erklären zu wol­len, kann daher allenfalls zu einem Kon­glomerat unterschiedlicher Gegenstän­de, nicht aber zu einer einheitlichen Sichtweise und zu einer stimmigen Ganzheit führen. Schlee kommt zu dem Schluß(ebd.):Komplexität wird da­

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