Franz B. Wember
durch nicht besser greifbar, sondern gerät zur Konfusion.“ Diese pointiert vorgetragene Kritik geiBelt die im Grunde naive Vorstellung bloßer interdisziplinärer Additivität. In Anspielung auf ein dreiköpfiges Monstrum, das in der griechischen Mythologie Löwe, Schlange und Ziege in sich vereinigt, spricht Schlee von der Chimäre der Interdisziplinarität, eine Metapher, mit der auch Heckhausen(1987) in der Psychologie simplizistische Vorstellungen angreift. Wenn selbst innerhalb eines Faches schon die Verständigung schwerfällt— vgl. Psychoanalyse und Verhaltensmodifikation oder geisteswissenschaftliche und kritisch-rationale Pädagogik—, wie soll dann zwischen den Disziplinen erfolgreich kommuniziert und in der Praxis integrativ interveniert werden? Mit Schlee ist zu befürchten, daß in der Sonderpädagogik mit paradigmatischen Differenzen allzu leichtfertig umgegangen wird. Er vermutet, daß interdisziplinäre Praxis so vehement gefordert wird, weil diese für alle Beteiligten zweifache Entlastung verspricht: 1. Wer im interdisziplinären Team Entscheidungen trifft, fühlt sich nie allein verantwortlich für diese Entscheidungen und die aus ihnen sich ergebenden Konsequenzen.
. Mögen interdisziplinäre Entscheidungen auch nur durch konsensuale Urteilsfindung und nur unter Ignoranz theoretischer und methodischer Differenzen zustandekommen, sie erwekken bei allen Beteiligten doch den Eindruck von fair errungenen, gewissermaßen objektiven Entscheidungen.
Identität durch Intervention und Integration
In der Einleitung zu dieser Arbeit hatten wir darauf hingewiesen, daß der Terminus„Disziplin“ im wissenschaftlichen Bereich in mehrfacher Bedeutung auftauche. Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß er als Synonym für„Fach“, im Sinne von innerer und im Sinne von äußerer Ordnung verstanden wird. Kuhns Analyse der Wissenschaftsdynamik machte deutlich, daß die äußere Ord
202
Interdisziplinäre Forschung, interdisziplinäre Praxis?
nung der Wissenschaften mit der inneren Ordnung, mit der Art und Weise zu arbeiten, zusammenhängt und daß es gerade die Phasen normaler Wissenschaft sind, die Erkenntnisgewinn beim praktischen Problemlösen einbringen, während die revolutionären Phasen metatheoretischen Gewinn versprechen. Eine Disziplin, die sich wie die Sonderpädagogik im vorparadigmatischen Zustand befindet bzw. ihre multiparadigmatische Verfaßtheit als theoretische Offenheit feiert, muß aufpassen, daß sie nicht gravierende Probleme leichtfertig abtut und ihre Identität letztlich interdisziplinär verliert. Schlimmer noch: Wenn die Sonderpädagogik beständig revolutionäre Phasen aufruft, beständig ihre Grundfragen neu formuliert und ihre Grundlagen problematisiert, droht sie sich zunehmend um sich selbst zu drehen. Es wird dann immer mehr über mögliche Forschung geredet, aber immer weniger reale Forschung vorangetrieben. Es gibt dann viele, die zwar selbst nicht forschen, wohl aber zu berichten wissen, wie eigentlich geforscht werden sollte. Die praktischen Problemlösungen bleiben unter solchen Umständen aus, und darunter leiden langfristig alle, nicht zuletzt die Betroffenen(Wember 1991b).
Vor einer falschverstanden akademischen und praxisfernen Selbstverliebtheit, die für die Betroffenen folgenlos bleiben muß, haben schon von Bracken (1964, 1980) und Tent(1985) gewarnt, beide eindringlich und mit deutlichen Worten. Angesichts vieler„... wirklich drängender Aufgaben, die nicht erst seit heute zu lösen wären, mutet manches, was gleichzeitig an Theoriediskussion bei uns abläuft, luxuriös und weltfremd an,“ beklagt Tent(1985, 143) und fordert(137):„Wir brauchen nicht noch mehr Theorien und noch mehr Programme; was wir dringend benötigen, ist handfeste Einzelforschung...‘“ Weil die Sonderpädagogik als angewandte und praxisorientierte Disziplin ihre Legitimation verliert, wenn sie nicht dazu beiträgt, das Leben der Menschen zu erleichtern, wollen wir abschließend versuchen, eine durch von Bracken(1964) begründete und seit Jahren von Kanter (1977, 1979, 1985, 1986, 1994) ausgear
beitete Sinnbestimmung sonderpädagogischer Forschung und Praxis in Erinnerung zu rufen und die Identität der Sonderpädagogik als Interventions- und Integrationswissenschaft zu begründen. „Interdisziplinarität im rechtverstandenen Sinne geht nicht zwischen den Disziplinen hin und her oder schwebt, dem absoluten Geist nahe, über den Disziplinen...“ schreibt Mittelstraß(1987, 156) und setzt wenig später fort:„Sie läßt die disziplinären Dinge nicht einfach, wie sie sind, sondern stellt, und sei es auch nur in bestimmten Problemlösungszusammenhängen, die ursprüngliche Einheit der Wissenschaft— hier als Einheit der wissenschaftlichen Rationalität, nicht der wissenschaftlichen Systeme verstanden— wieder her“(Hervorhebungen im Original). Diese Einheit der wissenschaftlichen Rationalität kann in der Sonderpädagogik nur darin begründet werden, daß hier Fragen von Bildung und Erziehung unter besonderen Bedingungen untersucht werden, Fragen von Bildung und Erziehung behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen, Fragen von Bildung und Erziehung in besonderen Situationen und erschwerten Lebenslagen usw.(vgl. Abb. 1). Intervention ist folglich das erste Bestimmungsstück einer Identität von Sonderpädagogik als wissenschaftlicher Disziplin.„Worin sollte Sonderpädagogik sonst ihren Sinn finden, wenn nicht im pädagogisch-rehabilitativen Handeln, das wissenschaftlich begründet und reflektiert ist?“ fragt Kanter(1979, 6-7), und führt fort:„Bei der Lösung der hier anfallenden Aufgaben befindet sich die Sonderpädagogik auf ureigenem Gebiet. Sie hat Problemstellungen selbst zu entwickeln, Lösungswege zu finden und Ergebnisse aus eigener Forschung vorzutragen, Auswertung und Umsetzung nachbarwissenschaftlicher Erkenntnisse eingeschlossen.“
Das Zitatende deutet an, daß Kanter die Sonderpädagogik eben auch als interdisziplinär arbeitendes Fach versteht— Integration ist das zweite Bestimmungsstück einer Identität von Sonderpädagogik als Wissenschaft. Hierunter versteht Kanter jedoch keine naive Additivität oder bloße Einvernahme anderer Theorien, Metho
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995