Franz B. Wember- Interdisziplinäre Forschung, interdisziplinäre Praxis?
den und Befunde in sonderpädagogische Theorieentwürfe:„Anstelle wissenschaftsgeleiteter Handlungsanweisungen werden Verlegenheitsaussagen geboten“ beklagt Kanter(1979, 7) und setzt wenig später fort:„Nicht selten... werden Versatzstücke aus dem Erkenntnisbestand von Nachbarwissenschaften, wie Psychologie oder neuerdings Soziologie, zusammengetragen und anhand abgeleiteten Begründungen mit dem Anspruch der Faktzität bloße Plausibilitätsaussagen vorgetragen. Auf diese Weise gerät die Arbeit des Fachgebietes in Gefahr, in einen unfruchtbaren Heurismus zu verfallen, statt realwissenschaftliche Fortschritte zu erzielen.“
Integration als Versuch, die Einheit wissenschaftlicher Rationalität wieder herzustellen, ist in der Sonderpädagogik so zu verstehen, daß Theorien, Methoden und Befunde aus Nachbardisziplinen kritisch rezipiert, nötigenfalls revidiert, auf ihre Verwendbarkeit im eigenen Arbeitsbereich geprüft und unter der erkenntnisleitenden Fragestellung von Bildung und Erziehung in die facheigenen Theorieentwürfe eingebaut werden. Eine solche Ausrichtung, so die Hoffnung dieses Autors, könnte die von Thimm(1975) schon vor zwanzig Jahren beklagte„unreflektierte Paradigmenkonkurrenz“ ebenso zu vermeiden helfen wie„einfache additive Aneinanderreihungen‘“ oder„monistische Ableitungen“, vor denen Bleidick (1977, 222) warnt. Als Zukunftsaufgabe ergibt sich die Entwicklung eines übergeordneten theoretischen Rahmens, der es erlaubt, Theorien, Methoden und Befunde vergleichend zu beurteilen und ihnen einen begründeten Platz im System der sonderpädagogischen Begriffe, Modelle und Methoden zuzuweisen. Ein solcher, übergeordneter theoretischer Rahmen wäre integrativ, wenn er erlaubt, bislang disziplinär separierte Teile interdisziplinär zusammenzuführen und fortan intradisziplinär bei der Lösung praktischer und theoretischer Probleme zu nut
zen. Ein solcher, übergeordneter theoretische Rahmen wäre ganzheitlich— nicht im romantischen Sinne von Wiederherstellung der ganzen Wirklichkeit, sondern schlicht und ergreifend in dem Sinne, daß er in seiner zugleich interventionsorientierten und integrativen Ausrichtung mehr umfaßt als die zu integrierenden Teile und in seiner einheitsstiftenden Wirkung vermutlich mehr sein dürfte als die Summe seiner Teile. Intervention und Integration ergänzen sich in der Sonderpädagogik in komplementärer Weise; denn sonderpädagogische Interventionen sind ohne die Integration bereits bekannter Befunde— gleich aus welchen Disziplinen diese stammen— kaum rational und effektiv zu entwickeln, umgekehrt ist die Integration nachbarwissenschaftlicher Begriffe und Theorien, Methoden und Techniken ohne die erkenntnisleitende Fragestellung der Intervention nicht denkbar. Soll Sonderpädagogik nicht zwischen den Disziplinen verlorengehen, so suche sie ihre Identität als wissenschaftliche Disziplin in der Komplementarität von Intervention und Integration.
Nachwort zur Bescheidenheit
„Nicht von Beginn an enthüllen die Götter uns Sterblichen alles,“ heißt es in einem alten Fragment des Xenophanes, „aber im Laufe der Zeit finden wir, Suchend, das Bess’re“(zitiert nach Popper 1958/1995, 11). Menschliches Wissen ist fehleranfällig und vergänglich, aber korrigierbar und verbesserungsfähig. Wir haben weder den Stein der Weisen gefunden, der uns Gewißheit gäbe, noch den archimedischen Punkt, an dem sich die Welt aus den Angeln heben ließe— auch in der Sonderpädagogik nicht. Wissenschaftlich forschende Menschen helfen sich, indem sie bestimmte Grundüberzeugungen akzeptieren, auf deren Basis sie dann in bestimmten Be
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995
reiche Probleme zu lösen suchen und hoffen, daß diese Problemlösungen mit der Zeit immer besser gelingen— auch in der Sonderpädagogik. Selbstkritische Forscherinnen und Forscher werden zugeben, daß sie in ihren Erkenntnisbemühungen wie alle Menschen immer theoretisch voreingenommen sind, immer mit Vereinfachungen arbeiten und sich immer wieder bewußt machen müssen, daß ihre Vereinfachungen die Wirklichkeit aspekthaft reduzieren— auch in der Sonderpädagogik. Da kann es nicht verkehrt sein, den Dialog über die disziplinären Grenzen hinweg zu suchen, um sich für die„blinden Flecken“ in der innerdisziplinären Sichtweise sensibilisieren zu lassen. Mittelstraß(1987, 154) betont, daß solch ein interdisziplinärer Dialog wünschenswert, aber nur unter intradisziplinär kompetenten Partnern sinnvoll sei; es gebe„keine interdisziplinäre Kompetenz, die disziplinäre Kompetenzen ersetzen könnte: interdisziplinäre Kompetenz setzt disziplinäre Kompetenzen voraus.“ In der Wirklichkeit unserer Tage könne man jedoch gelegentlich Rufe nach Interdisziplinarität vernehmen, hinter denen sich nur disziplinäre Einfallslosigkeit verbergen. Natürlich könne eine Disziplin, die unter Legitimationsdruck gerät, diesen durch interdisziplinäre Ausweitungen abfangen, aber:„Interdisziplinarität befördert in diesem Falle geradezu die Fortschreibung disziplinärer Engstirnigkeiten bzw. Engführungen, deren Überwindung sie doch eigentlich dienen soll‘(Mittelstraß 1987, 157). Wünschen wir uns eine phantasievolle Sonderpädagogik als Interventions- und Integrationswissenschaft mit Weitblick, die sich ihrer aspekthaften, reduktiven und simplifizierenden Sichtweisen bewußt ist und deshalb ihre Problemlösungsversuche selbstkritisch reflektiert und gelegentlich problematisiert, aber in der Hauptsache Problemlösungen aktiv vorantreibt! Probleme gibt es nämlich genug, und diese sind nicht nur theoretischer Art.
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