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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Heinrich Tröster, Werner Hecker und Michael Brambring+: Die motorische Entwicklung blinder Kinder

einträchtigen die Entwicklung der Haltungs- und Gleichgewichtsmoto­rik blinder Kinder.

(2) Durch den Ausfall der visuellen Sti­mulation werden blinde Kinder we­niger als sehende Kinder zur moto­rischen Aktivität, insbesondere zur Haltungs- und Lageänderungen(z.B. Heben des Kopfes in Bauchlage, Auf­setzen, Aufstehen) und zur selbstän­digen Fortbewegung(Krabbeln, Lau­fen) angeregt.

(3) Die infolge des Fehlens visueller In­formationen eingeschränkte Fähig­keit blinder Kinder, Ziele in ihrer Umgebung zu lokalisieren und ihren Bewegungsablauf zielorientiert aus­zurichten, verzögert den Erwerb 10­komotorischer Fertigkeiten.

(4) Die fehlende Möglichkeit, visuelle Informationen aus ihrer dinglichen und sozialen Umgebung zur Gefah­ren- und Risikoabschätzung zu nut­zen, erschwert es blinden Kindern, ihre anfängliche Unsicherheit und Ängstlichkeit beim selbständigen Fortbewegen zu reduzieren. So kön­nen blinde Kinder Hindernisse in ih­rer Umgebung nicht erkennen und ihnen ausweichen. Darüber hinaus haben sie nicht wie sehende Kinder die Möglichkeit, visuelle Informatio­nen aus ihrer sozialen Umgebung (z.B. die mimische Reaktion der Mut­ter in einer für das Kind neuartigen Situation) im Sinne des Social Refe­rencing(vgl. Klinnert et al. 1983) zu nutzen, um eine neuartige und angst­auslösende Situation besser einschät­zen zu können.

Inwieweit sich diese blindheitsspezi­

fischen Funktionsbeeinträchtigungen im

Einzelnen auf die motorische Entwick­

lung blinder Kinder auswirken und in

welcher Weise blinde Kinder den Aus­fall dieser Funktionen kompensieren, bleibt zu klären. In diesem Zusammen­hang sind möglicherweise die beobach­teten Besonderheiten in der Entwick­lung blinder Kinder aufschlußreich, wie zum Beispiel die Schwierigkeiten blin­der Kinder, sich zum Stand aufzurich­ten. Vermutlich ist das Fehlen visueller Informationen über Änderungen der Körperstellung in Relation zur Umge­

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bung und die Beschränkung auf das vestibuläre und propriozeptive System in der Entwicklungsphase, in der sich die Fertigkeiten zur Haltungs- und Lage­änderungen ausbilden, besonders nach­teilig. Zudem tragen die eingeschränk­ten Möglichkeiten blinder Kinder zur

Gefahren- und Risikoabschätzung dazu

bei, daß blinde Kinder, obwohl sie über

die entsprechenden neuromuskulären

Voraussetzungen verfügen, nur zögernd

beginnen, sich zum Stand aufzurichten

oder sich ohne Unterstützung fortzube­wegen.

Auch in der Abfolge des Auftretens 10­

komotorischer Fertigkeiten zeigten sich

Abweichungen von der Entwicklungs­

sequenz sehender Kinder. Vier der fünf

reifgeborenen blinden Kinder überspran­gen die Krabbelphase und begannen erst, sich auf allen Vieren vorwärts zu bewe­gen, nachdem sie bereits erste Schritte laufen konnten. Auch die frühgeborenen blinden Kinder konnten bereits an einer

Hand laufen, ehe sie anfıngen, koordi­

niert zu krabbeln. Das Überspringen der

Krabbelphase stellt offenbar eine Beson­

derheit in der Entwicklung blinder Kin­

der dar. Die Ursachen für diese Abwei­chung in der lokomotorischen Entwick­lung blinder Kinder sind unklar:

(1) In dem Alter, in dem sehende Kin­der normalerweise anfangen, auf sichtbare Ziele in ihrer Umgebung zuzukrabbeln, fehlt blinden Kindern noch ein entsprechendes Objektkon­zept, das ihnen ermöglicht, ihre aku­stischen Wahrnehmungen mit rea­len Gegenständen in der Außenwelt in Verbindung zu bringen. Ohne die Vorstellung, daß auditive Sinnes­wahrnehmungen auf reale Gegen­stände in ihrer Umwelt verweisen können, stellen hörbare Gegenstän­de(z.B. eine Spieluhr) für blinde Kin­der noch keinen Anreiz dar, auf sie zuzukrabbeln(Fraiberg 1977).

(2) Aufgrund der exponierten Stellung des Kopfes beim Krabbeln und der damit verbundenen Gefahr, mit dem Kopf auf Hindernisse zu stoßen, ver­meiden blinde Kinder diese Art der Fortbewegung, zumal sie beim Krab­beln ihre Hände nicht zu Hindernis­erkennung und Hindernisvermeidung

einsetzen können. Für diese Erklä­rung spricht, daß fünf der zehn blin­den Kinder zuerst rückwärts krab­belten bzw. robbten und zwei Kinder unserer Stichprobe etwa zur gleichen Zeit rückwärts und vorwärts robbten. (3) Vestibuläre Informationen sind in aufrechter Kopfstellung präziser als in einer davon abweichenden, waa­gerechten Kopfstellung. Möglicher­weise erschwert die fast waagerechte Kopfstellung und der fehlende Bo­denkontakt des Rumpfes beim Krab­beln es blinden Kindern, ihr Gleich­gewicht zu stabilisieren(R.H. Largo, persönliche Mitteilung, 18.10.1993). Im Unterschied zu den reifgeborenen blinden Kindern traten bei den frühge­borenen blinden Kinder erhebliche Ent­wicklungsverzögerungen auf. Sie tragen damit ein doppeltes Risiko: Ihre Ent­wicklung ist nicht allein durch den Aus­fall der Sehfähigkeit, sondern darüber hinaus durch die Risiken ihrer Frühge­burtlichkeit gefährdet. Während sehende frühgeborene Kinder ihren anfänglichen Rückstand in ihrer grobmotorischen Entwicklung gegenüber termingerecht geborenen Kinder glei­chen Gestationsalters im Laufe ihrer er­sten beiden Lebensjahre häufig aufho­len(Barrera, Rosenbaum& Cunning­ham 1987; Piper, Byrne, Darrah& Watt 1989), bzw. die Entwicklungsunterschie­de zu reifgeborenen Kindern durch die Korrektur des chronologischen Alters ab dem 2. Lebensjahr kompensiert, teilweise sogar überkompensiert werden(Den Ouden et al. 1991), nahmen die Entwick­lungsverzögerungen der frühgeborenen blinden Kinder in unserer Längsschitt­studie trotz der Korrektur ihres chro­nologischen Alters in ihren ersten drei Lebensjahren zu. Für diese Befunde bieten sich zwei Erklä­rungsmöglichkeiten an(Hecker 1994). Den im Vergleich zu den reifgeboreren blinden Kinder erheblichen Entwick­lungsverzögerungen der frühgeborenen blinden Kinder könnten zusätzliche, ne­ben der Sehschädigung vorhandene zere­brale Schädigungen zugrunde liegen. Diese Annahme wird durch die Ergeb­nisse der jährlich durchgeführten pädia­trisch-neurologischen Untersuchungen

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994