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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz B. Wember- Evaluation in Einzelfallstudien

derter in allgemeinen Schulen(vgl. Preuss-Lausitz 1990; Langfeldt 1990, 1991, ThemenheftIntegration und em­pirische Forschung dieser Zeitschrift). Wir werden im folgenden zunächst ein­gehender klären, was unter Evaluation und Evaluationsforschung zu verstehen ist, um anschließend die klassische Forschungsstrategie des Gruppenver­gleiches in typischen Designs zu kon­kretisieren und hinsichtlich ihrer Mög­lichkeiten, vor allem aber auch hinsicht­lich ihrer Grenzen, die sich bei sonder­pädagogischen Fragestellungen oft be­sonders deutlich zeigen, zu beleuchten. Als Alternative wird die Strategie der quasi-experimentellen Einzelfallanalyse vorgestellt und an ausgesuchten Beispie­len konkretisiert. Es soll gezeigt wer­den, daß auch bei sehr kleinen Personen­stichpoben bis hin zu N= 1 die Effekti­vität von sonderpädagogischen Interven­tionen wissenschaftlich redlich geprüft werden kann und daß sich die einzelfall­analytischen Designs gerade für Zwecke der praxisbegleitenden Forschung in Sondererziehung und Rehabilitation be­sonders eignen, auch wenn sie auf eine weitaus kürzere Tradition zurückblicken als die geradezu klassischen Gruppen­vergleichsstudien und sich dementspre­chend noch in der Entwicklung befin­den.

Evaluation und Evaluationsforschung

Eine Intervention kann, rational betrach­tet, nie absolut, sondern immer nur rela­tiv beurteilt werden, nämlich erstens re­lativ zu den akzeptierten ethischen Nor­men, denen alles Handeln genügen soll, zweitens relativ zu den gesetzten Zie­len, die mit der Intervention erreicht werden sollen, und drittens relativ zu alternativen Interventionen, welche die gleichen oder ähnliche Ziele erreichen sollen und welche ebenso realisierbar wären wie die gewählte Intervention. Eine Evaluation besteht also im Kern aus der vergleichenden Bewertung von Handlungsalternativen; diese setzt zum einen eine sorgfältige Zielanalyse, kon­krete Zielexplikationen und eine mög­

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lichst vorurteilsfreie und zugleich ideolo­giekritische Überprüfung der Legitima­tion von identifizierten und explizierten Zielen voraus, zum anderen die nüch­terne und zugleich möglichst faire em­pirische Erfolgskontrolle. Letztendlich sind Interventionen nämlich nicht an den idealiter anvisierten Zielen zu messen, sondern an den realiter erreichten Ef­fekten. Evaluationen führen folglich zu Wertungen, zu moralisch zu verantwor­tenden Stellungnahmen, die als Pla­nungs- und Entscheidungshilfen der Handlungsoptimierung und somit der Verbesserung der Lebensumstände der Menschen dienen(Wottawa& Thierau 1990, 9-17), ohne daß die Frage aus dem Blick geraten darf, wem eine Inter­vention letztendlich nutzt und wer wel­che Kosten aufzubringen hat.

Abbildung 1 zeigt in starker Verein­fachung das Grundgerüst einer Evalua­tionsstudie: Ausgehend von aktuellen Anlässen werden über die Explikation von Zielen und Fragestellungen Varia­blen operationalisiert, ein Forschungs­design realisiert, eine Intervention unter mehr oder minder kontrollierten Bedin­gungen implementiert und schließlich vergleichende Messungen vorgenom­men, die sich als Erfolgs- bzw. Miß­erfolgsindikatoren interpretieren lassen und die nicht selten in neue Fragestel­lungen einmünden, so daß sich der für empirische Forschung typische zyklische Prozeß der Weiterentwicklung von Fra­gen und der allmählichen Verbesserung von Antworten ergibt. Da solche Studi­en zur Akzeptanz und Weiterentwick­lung von Interventionen oder aber zu deren Verwerfung führen, kommt ihnen große praktische Bedeutung zu: Evalua­tionen können die sonderpädagogische Praxis ändern, denn auf ihrer Grundla­ge befinden die Auftraggeber oder ande­re Entscheidungsträger nicht selten über die Verwendung gesellschaftlicher Res­sourcen. Aus diesem Grunde ist nur fol­gerichtig, wenn gefordert wird, Evalua­tionen sollten wissenschaftlich fundiert durchgeführt werden. Schließlich be­schreibt die allgemeine wissenschaftli­che Methode, wie Bunge(1967) gezeigt hat, die bislang erfolgreichste Art zu denken und zu handeln, und folgenrei­

che Bewertungen sollten nicht in die subjektive Beliebigkeit Einzelner gestellt oder der Interessenlage von Teilgruppen ausgeliefert, sondern mit geprüften Me­thoden und für eine kritische Fachöf­fentlichkeit nachvollziehbar vorgenom­men werden. Wer eine solche Argumen­tation grundsätzlich akzeptiert, wird wie Langfeldt dies bereits 1990 getan hat auch zur Beurteilung sonderpäd­agogischer Interventionen kritische em­pirische Forschung fordern.

Thomas Kuhn hat vor vielen Jahren (1967) gezeigt, daß sich entwickelte wis­senschaftliche Disziplinen dann, wenn scheinbar unlösbare Probleme und Wi­dersprüche auftreten oder wenn Stagna­tion droht, in vergleichsweise kurze Pha­sen eines geradezu revolutionären Wan­dels durch grundlegende Neuorientie­rung begeben, daß aber der eigentliche Fortschritt auf objektwissenschaftlicher Ebene in relativ langen Phasennorma­ler Wissenschaft entsteht: Gemäß der allgemeinen wissenschaftlichen Metho­de, die sich als ein Prozeß der immer wiederkehrenden Konfrontation von theoretischen Aussagen mit realen Da­ten auffassen läßt, werden die in einem Handlungsfeld auftauchenden Probleme approximativ zunehmend zufriedenstel­lenderen Lösungen nähergebracht. Folg­lich führt Evaluationsforschung als die praxisorientierte Variante der allgemei­nen wissenschaftlichen Methode in al­ler Regel nicht in einmaligen Sprüngen zu den optimalen Lösungen, sondern in kleinen Schritten zur Aufgabe unwirk­samer und zur allmählichen Verbesse­rung erfolgversprechender Interventio­nen. Dabei kommen die Forscherinnen und Forscher nicht umhin, nüchterne Kosten-Nutzen-Analysen vorzunehmen und entsprechende Optimierungsschritte vorzuschlagen: Akzeptierte Interventio­nen sollten faktische Effekte zeigen, die­se sollten höher sein als bei alternativen Interventionen, und der Nutzen dieser Effekte sollte größer sein als die Kosten, die zur Implementierung der Interven­tion aufzubringen sind. Evaluations­forschung läuft also letztendlich auf eine Interventionsoptimierung durch Nutzen­maximierung bei gleichzeitiger Kosten­minimierung hinaus, aber solche instru­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994