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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz B. Wember- Evaluation in Einzelfallstudien

sche Hypothese bewährt. Falls die Lei­stungen der Versuchsperson jedoch gleich bleiben oder sinken, gilt die theo­retische Hypothese als empirisch falsi­fiziert. Offensichtlich ist die in der Fall­studie zur Anwendung gekommene In­tervention nicht, wie ursprünglich an­genommen, generell wirksam; denn zu­mindest bei dieser konkreten Person war kein entsprechender Effekt auszuma­chen.

Die Einzelfallstrategie umgeht alle für die Gruppenvergleichsstrategie genann­ten Realisierungsprobleme, da sie weder Randomisierung, noch Stichprobenzie­hung oder Vergleichsgruppenbildung erfordert. Die individuelle Versuchsper­son stellt die Analyseeinheit dar, die als ihre eigene Kontrollperson fungiert. Die Effektstärkeschätzungen beziehen sich auf Einzelpersonen und nicht auf Grup­pendurchschnitte, die Vorgehensweise entspricht weitgehend der pädagogischen Problemlösung unter Praxisbedingun­gen. Aus methodischer Sicht läßt sich jedoch einwenden, daß das in Abbil­dung 5 skizzierte Design präexperimen­teller Art ist: auf diese Weise lasse sich keineswegs zweifelsfrei zeigen, daß die in der Interventionsphase beobachteten Veränderungen auf die Intervention zu­rückzuführen sind, sie könnten durch­aus auch auf andere, vom Forscher nicht erkannte, außerexperimentelle Einflüs­se oder Ereignisse zurückzuführen sein. Ein Blick in die Forschungsliteratur wird uns zeigen, daß es zwei grundlegende Strategien gibt, die interne Validität von Einzelfallstudien zu sichern, um solchen Einwänden durch passende Designop­tionen zu begegnen.

Beispiele aus der Forschung

Die seit Wilhelm Wundt klassische Me­thode, die Abhängigkeit zwischen un­abhängiger und abhängiger Variable möglichst zweifelsfrei zu belegen, beteht in dem Nachweis willkürlicher Kontrol­le: Wenn es immer wieder gelingt, die Ausprägung der abhängigen Variable per Intervention gezielt zu beeinflussen, ver­lieren Erklärungen, die auf andere Bedin­gungsfaktoren verweisen, an Glaubwür­

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digkeit. Im Rahmen der Einzelfallstra­tegie läßt sich solch eine willkürliche Kontrolle auf zweifache Weise zeigen: Entweder man versucht, den experimen­tellen Effekt intraindividuell zu replizie­ren, d.h. man setzt eine einzige Person mindestens zwei Phasen von Kontroll­und Interventionsbedingungen aus, oder man versucht, den Effekt interindividuell zu replizieren, d.h. man setzt zwei oder mehrere Personen gleichzeitig oder nach­einander jeweils mindestens einer Kon­troll- und einer Interventionsphase aus und beobachtet, ob sich die gewünsch­ten Verhaltensänderungen bei allen Per­sonen zeigen. Im folgenden wollen wir an exemplarisch ausgesuchten Beispie­len die praktische Vorgehensweise ver­deutlichen und zeigen, daß beide Ver­fahrensweisen ihre Vor- und Nachteile haben. Weitere Beispiele finden die in­teressierten Leserinnen und Leser in ei­ner früheren Veröffentlichung(Wember 1989).

Intraindividuelle Replikation

Reversionen, Vertauschungen von Zei­chen in Zeichenfolgen, sind beim Erler­nen des Umgangs mit symbolischen Sy­stemen häufig zu beobachten. Das Ver­tauschen von Buchstaben beim Ver­schriften von gesprochener Sprache(z.B. dei stattdie) galt lange Zeit und gilt für einige heute noch als typisches Sym­ptom einer sog. Legasthenie, die Ver­drehung der Ziffernfolge beim Schrei­ben mehrstelliger Zahlen(z.B.41 statt 14) findet sich dementsprechend in den Symptomlisten fürDyskalulie oder Rechenschwäche. Es gibt neurologi­sche Erklärungsansätze, die Hirnfunk­tionsstörungen für solche Fehler verant­wortlich machen, und kognitive Erklä­rungsansätze, die enger bei den Phäno­menen selbst bleiben und z.B. postulie­ren, wer41 schreibe, wenn ihmvier­zehn diktiert wird, der halte sich an die Regel alter Schulmeister:Schreibe so, wie Du sprichst. Schließlich hört und spricht der Schüler zuerstvier und dannzehn.

Hasazı& Hasazi(1972) beschäftigten sich mit Ziffernverwechselungen bei

zweistelligen Zahlen, die bei einem achtjährigen Jungen namens Bob in ei­ner Grundschulklasse so gehäuft zu be­obachten waren, daß seine Rechenlei­stungen im Gegensatz zu seinen anson­sten guten Schulleistungen stark abfie­len. Bei eingehender Beobachtung des Schülers im Unterricht gewannen sie je­doch den Eindruck, daß diese Verdre­hungen keine neurologischen und keine kognitiven Probleme darstellten: Erstens konnte Bob Zahlen mit gleichen Ziffern (z.B.14 und41) richtig lesen und unterscheiden, zweitens machte er die Lehrerin selbst auf Verdrehungen auf­merksam, wenn diese solche bei der Kor­rektur seines Arbeitsblattes übersehen hatte, und drittens konnte gelegentlich beobachtet werden, daß er korrekt ge­schriebene Zahlen ausradierte und ver­dreht aufschrieb.

Bereits 1962 hatten Zimmerman& Zim­merman den Fall eines lese-rechtschreib­schwachen Schülers anaylsiert, der im­mer wieder Buchstaben vertauschte, aber dies nicht etwa, weil er nicht in der Lage gewesen wäre, die Reihenfolge der Buchstaben korrekt wiederzugeben, son­dern weil er sich durch die systematisch produzierten Fehler die intensive Auf­merksamkeit seiner Lehrerin sichern konnte. Hasazi& Hasazi gewannen den Eindruck, daß dies bei Bob ähnlich war: Die Lehrerin ignorierte bei der Korrek­tur richtig gelöste Aufgaben und hob falsch gelöste Aufgaben hervor. Nur die letzteren rechnete sie anschließend ge­meinsam mit dem Schüler durch, meist unter Verwendung von anschaulichen Hilfen wie Rechenmaschine und Zahlen­strahl. Hasazi/Hasaziı waren der Mei­nung, die Lehrerin müsse, wolle sie ih­rem Schüler zum Erfolg verhelfen, ihr Zuwendungsverhalten gänzlich ändern: sie müsse auf korrekt gelöste Aufgaben positiv reagieren und falsch gelöste Auf­gaben ignorieren. Es wurde beschlos­sen, diese Hypothese in einer quasi-ex­perimentellen Einzelfallanalyse zu prü­fen.

Abhängige Variable war die Anzahl von Ziffernverdrehungen pro Übungsphase. Bob bearbeitete an jedem Tag in der Übungsstunde ein Arbeitsblatt mit 20 Additionsaufgaben im Zahlenraum 12­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994