Franz B. Wember- Evaluation in Einzelfallstudien
Abb. 7: Anzahl von Unterrichtsunterbrechungen durch 27 Schülerinnen und Schüler eines zweiten Schuljahres in einem städtischen Armutsviertel(leicht geändert aus Hall et al., 1971, S. 147)
N= Anzahl der Unterrichtsstörungen t= Unterrichtstage Al Übliche Unterrichtsbedingungen
B1 Differentielle verbale Verstärkung und Wahl einer beliebten Aktivität C1 Response-Cost Verfahren(Punktabzug) und materielle Verstärkung
A2 Übliche Unterrichtsbedingungen B2 Differentielle verbale Verstärkung
von Störfaktoren erlaubt. Alternativerklärungen durch Verweis auf andere Faktoren als die eingesetzte Intervention sind schlecht begründbar, da es Autorin und Autor wiederholt gelungen ist, willkürliche Kontrolle zu demonstrieren.
Intraindividuelle Replikationen können nicht nur bei einzelnen Personen, sondern auch bei einzelnen Gruppen angezeigt sein. Hall, Fox, Willard, Goldsmith, Emerson, Owen, Davis und Porcia (1971) haben in einer ihrer Feldstudien (Experiment 6, 146-148) versucht, Unterrichtsstörungen in der 2. Klasse einer Grundschule zu reduzieren, die von farbigen Kindern aus armen städtischen Verhältnissen besucht wurde. Als abhängige Variable erhoben sie die Anzahl von Unterrichtsunterbrechungen in der Klasse pro Schultag, als unabhängige Variable wurde ein Verhaltensmodifikationsprogramm eingesetzt: Ein Sinken von Störungen wurde vom Lehrer durch Lob verstärkt und die Schülerinnen und Schüler durften sich eine Aktivität aussuchen, die sie gerne unternehmen würden. Ohne auf die Details dieser Untersuchung einzugehen, z.B. wurde die Intervention in drei Varianten eingesetzt, zeigt Abbildung 7 bei visueller Analyse relativ klare Effekte: Gegenüber der ersten Kontrollphase A 1
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nehmen die Unterrichtsstörungen in den Interventionsphasen B 1 und C1 deutlich ab; sie steigen bei Absetzen der Intervention(Phase A 2) wieder an, aber auch Hall et.al.(1971) gelingt es, Kontrolle zu demonstrieren und den Effekt wiederholt herzustellen(Phase B 2). Dieses Ergebnis ist von Jones, Vaught& Reid(1975) bestätigt worden, welche die Daten der ersten zwei Phasen mit objektiven statistischen Methoden analysiert haben. Sie fanden eine für intraindividuelle zeitversetzte Messungen typische, statistisch signifikante(p<.01) Autokorrelation hohen Betrags rg= ‚96), die sie mithilfe eines zeitreihenanalytischen Modells korrigierten, um tTests für Mittelwert und Steigung der Regressionsgeraden anwenden zu können. Sie stellten fest, daß ein statistisch signifikanter Mittelwertzuwachs zu verzeichnen war(t= 3.90, df= 39, p<.01), aber kein überzufälliger Wechsel in der Steigung der Regressionsgeraden. Mangels Teststärke konnten die verbliebenen drei Phasen mit jeweils nur 5 Meßwerten nicht zeitreihenanalytisch beurteilt werden.
Bei oberflächlicher Betrachtungsweise könnte man meinen, bei der Untersuchung von Hall und Mitarbeitern handele es sich um eine unkontrollierte Fallstudie
mit einer Gruppe von N=27 Kindern. Hall et al.(1971) benutzen jedoch die gesamte Schulklasse als experimentelle Einheit, die sie wechselweise Kontrollund Interventionsbedingungen aussetzen, wobei die Klassengruppe als ihre eigene Kontrollgruppe fungiert. Mit N= 1 Schulklassen zu arbeiten statt mit N= 27 Kindern ist hier korrekt; die Intervention richtet sich an die gesamte Klasse, so daß einzelne Kinder in dieser Klasse gar nicht unabhängig von anderen Kindern in den Genuß der Intervention kommen können. Folglich muß die experimentelle Einheit die gesamte Schulklasse sein— in der angloamerikanischen Methodenliteratur spricht man in diesem Zusammenhang manchmal und bezeichnender Weise statt von „experimental units“ auch von„units of assignment“.
Fassen wir zusammen: In beiden referierten Studien konnte der Erfolg einer Intervention demonstriert werden. In beiden Untersuchungen konnte eine funktionale Relation zwischen unabhängiger und abhängiger Variable relativ unzweifelhaft gezeigt werden: dafür sprachen die Ergebnisse der visuellen Analyse des Datenverlaufs, die relativ hohen Effektstärken, die Resultate ausgesuchter statistischer Tests und vor allem die Tatsache, daß die Interventionseffekte in beiden Studien repliziert werden konnten. Intraindividuelle Replikationsdesigns sind folglich relativ einfach zu realisierende, aber aussagekräftige Forschungsdesigns. Solche Designs unterliegen jedoch zwei gravierenden Einschränkungen: Sie sind nur anzuwenden, wenn eine einmal eingeführte Intervention sich, erstens, überhaupt wieder zurücknehmen läßt, und wenn dies, zweitens, ethisch vertretbar ist. In vielen Fällen ist es nämlich aus der Sicht einer sonderpädagogischen Ethik nicht zu rechtfertigen, wenn eine erfolgreiche Intervention, die einem behinderten Kind bei der Bewältigung schwerwiegender Probleme hilft, aus Gründen der Forschungslogik wieder zurückgenommen werden soll, und in all den Fällen, in denen Kinder neue Fertigkeiten erlernen, ist eine Rückkehr zu früheren Ausgangsbedingungen überhaupt nicht
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994