Franz B. Wember- Evaluation in Einzelfallstudien
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d.h. mit ausreichender Teststärke, angewendet werden kann, abhängig von Alpha-Niveau, Fehlervarianz, Effektstärke und Stichprobengröße— letztere betrifft aber nicht die Anzahl von Personen, sondern die Anzahl von Meßwerten. Kurzum: die interne Validität kann bei Einzelfallanalysen ebenso gesichert werden wie bei Gruppenvergleichsstudien, zudem Westmeyer(1989) gezeigt hat, daß von den acht empirisch falsifizierbaren Hypothesenarten sieben durch Einzelfälle mit ausreichender Strenge und ausreichender Fairness geprüft werden können. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, daß eine Fallstudie auch Schlüsse erlaubt, die über den untersuchten Fall hinausreichen.
Die klassische Methode, die externe Validität einer Studie zu sichern, besteht in der Ziehung möglichst großer und möglichst repräsentativer Personenstichproben, um per statistischem Induktionsschluß auf die Verhältnisse in der Grundgesamtheit schließen zu können. In der Kritik an der Randomisierung wurde gezeigt, daß dieses Verfahren bei unzureichend definierten und offenen, einem ständigen Wandel unterliegenden Populationen, wie wir sie in der Sonderpädagogik vorfinden, nicht greift. Einzelfallanalytische Forschung weist hier einen anderen Weg: die Generalisierung auf ähnliche Personen in ähnlichen Situationen auf der Grundlage von Replikationen. Wenn es mir gelingt, mit Hilfe einer wohlumschriebenen Intervention, die ich unter kontrollierten Bedingungen und bei bestimmten Personen anwende, wiederholt gewünschte Effekte herzustellen, kann ich zwar nicht induktiv auf andere Personen verallgemeinern, aber alle Erfahrung zeigt, daß ich Grund habe anzunehmen, daß ähnliche Personen, werden sie mit der gleichen Intervention unter ähnlichen Umständen gefördert, ähnliche Effekte erwarten lassen. Aussagekräftig sind hier vor allem erfolgreiche Replikationen, die das Herz der Einzelfallmethodologie darstellen. Zwar wird man, wenn man viele Einzelfälle intensiv erforscht und sukzessive kontrollierte Replikationen versucht, mit größerer Wahrscheinlichkeit auf Moderatorvariablen stoßen, als wenn
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man die gleiche Anzahl von Personen extensiv in einer einzigen Gruppenvergleichsstudie untersuchen würde— aber diese hohe Sensitivität für differentielle Ergebnisse ist, wie gesehen, kein Nachteil der Einzelfallstrategie, sondern liegt in der Komplexität der sonderpädagogischen Praxis begründet, die hier unverzerrter abgebildet wird als in Gruppenvergleichen, die, falls Untersuchungen nicht faktoriell angelegt werden, reale Komplexität auf Mittelwerte reduzieren.
Wenn Gruppenvergleichs- und Einzelfallstudien in dieser Arbeit konstrastierend gegenübergestellt wurden, darf dies doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß beide Strategien in der Forschungspraxis einander nicht ausschließen, sondern sinnvoll ergänzen. Shine hat schon 1975 vorgeschlagen, beide Strategien in progressiven Forschungsprogrammen zu kombinieren: Eine neue sonderpädagogische Intervention könnte man in einer ersten Phase von kontrollierten Einzelfallexperimenten zunächst intensiv testen, um nur solche Interventionen, die hier praktisch bedeutsame und replizierbare Effekte bewirken, anschließend extensiven Evaluationen in Gruppenvergleichsstudien zu unterziehen. Morch (1993) hat diese Argumente kürzlich für die sonderpädagogische Forschung wiederholt und Klauer(1988, Studie 2) hat gezeigt, daß sich Einzelfalldaten sehr wohl gruppenvergleichend auswerten lassen: In einem Versuch zum Training von Intelligenztestleistungen durch die Feststellung von Gleichheit und Verschiedenheit bei Merkmalen und Relationen hat er 15 Kinder einer mehrwöchigen Einzelförderung unterzogen und die Ergebnisse zunächst ipsativ ausgewertet. Diesen Kindern standen außerdem 15 Paarlinge gegenüber, so daß Klauer gleichzeitig auch ein Gruppenvergleichsdesign realisiert hatte, das eine inferenzstatistische Beurteilung des Gesamtergebnisses und eine Abschätzung der durchschnittlichen Effektstärke zuließ.
Als Kuhn(1967) den Begriff des Paradigmas in das wissenschaftstheoretische Vokabular eingeführt hat, legte er diesem zwei Bedeutungsvarianten bei: Para
digmen sind zum einen übergreifende und weitverbreitete Modellvorstellungen, die Gruppen von ähnlichen Theorien zugrundeliegen, zum anderen Beispiele für besonders erfolgreiche Forschungen. Die hier aufgezeigte Strategie der quasiexperimentellen Einzelfallanalyse könnte paradigmatisch im ersten Sinne, die hier referierten Untersuchungen paradigmatisch im zweiten Sinne sein, und zwar nicht, weil die zur Anwendung gekommenen Interventionen von exemplarischer Bedeutsamkeit wären, sondern weil der Forschungsansatz als solcher gerade für das Feld der Sondererziehung und Rehabilitation vielversprechend scheint: Sonderpädagogik ist, einem vielzitierten Satz von Paul Moor folgend, besondere Pädagogik, und das heißt fast immer: Pädagogik, die auf die individuelle Lebenslage und die individuellen Lernvoraussetzungen des Einzelnen zugeschnitten ist. In Gruppenvergleichsstudien werden interindividuelle Differenzen immer und notwendigerweise als Fehlervarianz behandelt. Im Bereich der Sonderpädagogik ist solch ein Vorgehen manches Mal nicht zulässig. Wissenschaftlich arbeitende Sonderpädagogen sollten ebenso wie ihre in der Praxis tätigen Kolleginnen und Kollegen die intra- und interindividuellen Differenzen, die Vielfalt der Individuen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen rücken. Einzelfallforschung ist in diesem Zusammenhang kein Allheilmittel, denn es gibt viele Forschungsfragen, die gruppenbezogene Untersuchungen notwendig machen. Es sei auch nicht verschwiegen, daß sich Einzelfallanalysen nicht realisieren lassen, wenn das Zielverhalten nur sehr selten vorkommt, extreme Varianz aufweist oder nicht wiederkehrend gemessen werden kann. Es bleibt auch zu bedenken, daß die Einzelfallforschung nicht auf eine lange Forschungstradition zurückblicken kann wie die gruppenvergleichende Forschung; ihre Methodik befindet sich in der Entwicklung und weist noch viele Desiderata auf, insbesondere hinsichtlich der statistischen Verarbeitung von Zeitreihendaten und der Komponentenanalyse von zusammengesetzten Interventionen. Vermultlich hatte Jones recht, als er 1979
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994