Ulrich Elbing und Ulrich H. Rohmann- Imitations- und Modellierungsprozesse in der Behandlung von Verhaltensstörungen geistig Behinderter
verletzendes Verhalten wird in jüngerer Zeit vermehrt und zum Teil ausschließlich oder nur durch zusätzliches Ignorieren mit dem Aufbau und der Verstärkung kommunikativen Verhaltens behandelt(Wacker, Steege, Northup, Sasso, Berg, Reimers, Cooper, Cigrand& Donn 1990; Northup, Wacker, Sasso, Steege, Cigrand, Cook& DeRaad 1991; Horner, Sprague, O’Brian& Heathfield 1990; Day, Rea, Schussler, Larsen& Johnson 1988, Durand& Carr 1991). Im Zusammenhang mit der kommunikativen Funktion von selbstverletzendem Verhalten als auch von entsprechendem Deuteverhalten weisen Bird et al.(1989) auf die Vermeidung von Aufgaben und Anforderungen hin. In ähnlicher Weise vermuten Carr& Durant(1985), daß Verhaltensstörungen die Funktion nonverbaler Kommunikation haben können. Den bislang zitierten Untersuchungen ist gemeinsam, daß sie in der Entwicklung kommunikativen Verhaltens nicht bei der kommunikativen Funktion der Verhaltensstörungen selbst ansetzen, sondern vielmehr kommunikative Verhaltenselemente einüben, die der Therapeut— wie sorgfältig auch immer— auswählt und gestaltet, wobei der Ansatz von Duker(1991) hierbei der mit am besten systematisierte und differenzierte sein dürfte. Duker(1991) hat seinem Lernprogramm Gesten zugrundegelegt, deren spontane Verständlichkeit für den Beobachter vorher empirisch abgesichert wurde. Konsequenter geht der Ansatz des Gentle Teaching von McGee, Menolascino, Hobbs& Menousek(1987) auf das bereits vorhandene kommunikative Verhalten des Behinderten ein, wobei auch in diesem Ansatz die Heranführung an eine Aufgabenbewältigung wesentlicher Bestandteil der Strategie ist. So berichten Jones, Singh& Kendall(1991), daß sich das eigeninitiative Kommunikationsverhalten(von den Autoren als bonding definiert) durch das Gentle Teaching nicht verändert.
Die Möglichkeit, das Paradigma des Modellernens(Bandura 1971) zur Entwicklung kommunikativen Verhaltens zu nutzen, wurde in den bisher publizierten Untersuchungen nicht konsequent eingesetzt. Soweit Modellernen als the
rapeutische Intervention eingesetzt wurde, so geschah es in dem Sinne, daß ein Behinderter die verhaltenstherapeutische Behandlung z.B. mit time-out eines anderen Behinderten direkt beobachtete, was ebenfalls zu einer Reduzierung der Verhaltensauffälligkeit führt(Matson& Stephens 1981; Pendergrass 1972). Am konsequentesten wurde störendes Verhalten von Kauffman, LaFleur, Hallahan & Chanes(1975) sowie von Owusu-Bempah(1983) interaktiv aufgegriffen, wobei die Autoren das jeweilige Verhalten des Behinderten möglichst in Blickkontakt imitierten. Vor allen Dingen OwusuBempah nimmt hierbei ausdrücklich Bezug auf Banduras soziale Lerntheorie. Die Effekte, die die Autoren berichten, weisen jedoch deutlich darauf hin, daß ihnen abgesehen von der möglichst genauen Imitation durch den Therapeuten keine weiterführenden Interventionsstrategien zur Verfügung standen, die auf die Imitation aufbauend kommunikatives Verhalten weiterentwickelt hätten.
Imitation und Modellernen als Basistherapie der Kommunikationsentwicklung
In den letzten Jahren gab es jedoch im deutschen Sprachraum eine intensive Entwicklung therapeutischer Strategien, die ausgehend von der Basistechnik der Imitation ein differenziertes therapeutisches Instrumentarium entwickelt haben. Als Ausgangspunkt dieser Entwicklung darf sicherlich die AufmerksamkeitsInteraktions-Therapie gelten, die Hartmann bereits 1986 vorgestellt hat(vgl. auch Hartmann& Jakobs 1993). Hartmann selbst sowie seine Mitarbeiter entwickelten seither diesen Ansatz beständig weiter, wobei neben dem ursprünglichen Indikationsbereich des Autismus und der Psychose bei Kindern und Jugendlichen die Anwendung auf den Indikationsbereich selbstverletzendes Verhalten(Rohmann& Hartmann 1988), Sprachanbahnung(Kalde 1992) sowie schwere Verhaltensstörungen bei geistig behinderten Jugendlichen und Erwachsenen erweitert wurde(Elbing& Rohmann 1992a). Hartmann legt seinem
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994
Ansatz eine Theorie der Informationsverarbeitung zugrunde, wobei die neuesten Entwicklungen diesem Ansatz eine kommunikationstheoretische Neuformulierung zur Seite stellen(Elbing& Rohmann in Vorb.). Inzwischen liegt auch eine psychoanalytische Reformulierung und Adaptation vor, die die Anwendung auf depressive Verstimmungen und Entwicklungen bei schwerer geistig Behinderten möglich macht(Kischkel, Pohl-Kroll, Rüster, Schultz, Sievers& Störmer 1991).
Die Interventionsstrategien stellen im Kern eine konsequente Anwendung der sozialen Lerntheorie nach Bandura dar, indem sie ausgehend von der Imitation des behinderten Menschen Verhaltensvariationen und qualitative Verhaltensweiterungen als Modell anbieten. Da diese Verhaltensmodelle von dem soeben noch imitierten Verhalten des behinderten Menschen selbst ausgehen, erfüllen sie alle Forderungen von Bandura, die er an ein Modell stellte, das erfolgreich nachgeahmt werden soll(Bandura& Jeffery 1973). Der Therapeut beginnt seine Interventionen, indem er sich möglichst genauso verhält wie sein behinderter Partner. Als lebender Spiegel imitiert er seine Laute, seine Körperhaltung, seine Mimik und die Bewegungsabläufe. Selbst der Atemrhythmus kann in die Imitation mit einbezogen sein. Da ein exaktes Imitat kaum zu realisieren ist, beinhaltet der Versuch der Imitation bereits erste, wenn auch noch nicht intentional eingesetzte Variationen. Diese Variationen haben jedoch Modellfunktion für den behinderten Kommunikationspartner. Auf diese Weise kann beispielsweise der Atemrhythmus bereits normalisiert werden, was dann durch gezielte Modellierung durch den eigenen, geringfügig ruhigeren Atem weiter unterstützt werden kann(vgl. auch Mall 1984).
Die soziale Verstärkung des vom Behinderten nachgeahmten Modellverhaltens besteht wiederum in dessen Imitation durch den Therapeuten. Auf diese Weise entsteht ein feinmaschiges Gewebe aus Imitation und Modellieren von Verhalten, das konsequent vom Verhalten und damit auch den Verhaltens
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