Einzelfallanalytische Evaluation einer Intervention zur Reduktion von stereotypem und selbstverletzendem Verhalten bei einer schwer geistig
behinderten Jugendlichen
Von Thomas Breucker
Die Sonderpädagogik als praxisbezogene wissenschaftliche Disziplin muß gleichermaßen um Einfühlendes Verstehen und empirisch-analytisches Erklären bemüht sein. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es aufzuzeigen, wie sich empirisch-analytische Vorgehensweisen und Einfühlendes Verstehen sinnvoll ergänzen können. Ausgehend von einer funktionalen Analyse stereotypen und selbstverletzenden Verhaltens wird der Versuch unternommen durch Pädagogische Musiktherapie die Häufigkeit dieser Verhaltensweisen bei einer 1l6jährigen schwer geistig behinderten Jugendlichen zu reduzieren. Die Wirksamkeit der implementierten Intervention sowie eventuelle Transfer- und Langzeiteffekte wird im Rahmen einer quasi-experimentellen Einzelfallstudie geprüft und evaluiert. Die statistisch Analyse der Daten und deren soziale Validierung belegen für diesen konkreten Fall die Wirksamkeit der Intervention. Die Analyse von Kontrolldaten, die parallel zur Intervention erhoben wurden, deutet jedoch daraufhin, daß neben der Pädagogischen Musiktherapie weitere Einflußfaktoren wirksam waren.
Special education as a practice-related scientific discipline has to be based on empathetic understanding as well as empirical-analytical explanation. The objective of this study is to point out how empathetic understanding and empirical-analytical explanation can be combined in a single-case research design in a meaningful way. Based on a Functional Analysis of stereotypic and selfinjurious behavior the hypotheses are tested that(1) Educational Music Therapy will reduce the frequency of stereotypic and self-injurious behavior exhibited by a 16-year-old girl with severe mental retardation and(2) generalize across settings and time. Statistical analyses and their social validation suggest that in fact stereotypic and self-injurious behavior decreased significantly and generalized across settings. In addition, subjective evaluation by significant others seems to indicate a generalization across time. However, analyses of data collected to evaluate generalization across settings suggest, that, in addition to Educational Music Therapy other factors might have influenced the effectiveness of the intervention.
In der deutschsprachigen Sonderpädagogik wird seit geraumer Zeit die mangelnde Verschränkung sonderpädagogischer Forschung und Praxis beklagt. Besonders Klauer(1977) und Kanter (1979, 1985) fordern seit Jahren eine stärkere Berücksichtigung empirischanalytischer Forschungsmethoden:„Womit sollte sich eine Behindertenpädagogik oder Sonderpädagogik legitimieren“ fragt Kanter(1985, 349),„wenn nicht mit dem Nachweis gesicherter pädagogischer Lern- und Erziehungshilfen?“ Wember hat diese mitunter kontrovers
128
diskutierte Forderung in jüngerer Zeit bekräftigt und weitergeführt. Zum einen hat er auf die Bedeutung quasi-experimenteller Einzelfallstudien als Methoden der empirischen sonderpädagogischen Forschung aufmerksam gemacht (Wember 1989, 1990), zum anderen hat er aufgezeigt, daß empirisch-analytisches Vorgehen und Einfühlendes Verstehen als Methoden sonderpädagogischer Forschung und Praxis nicht einander ausschließen, sondern in sinnvoller Weise ergänzen, ja ergänzen müssen(Wember 1991, 71):„Die Sonderpädagogik kann
in Forschung und Praxis nicht entweder verstehend, oder erklärend verfahren, sondern sie muß sowohl verstehend als auch erklärend vorgehen“.
Leider ist diese Forderung, wie Veröffentlichungen von Schlosser& Goetze (1991) sowie Scotti, Evans, Meyer& Walker(1991) zeigen, zumindest für die Forschung im Bereich selbstverletzenden und stereotypen Verhaltens kaum erfüllt. Schlosser und Goetze legen eine MetaAnalyse von Einzelfalluntersuchungen zur Effektivität von Interventionen bei selbstverletzendem Verhalten aus den
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994