Thomas Breucker- Intervention zur Reduktion von stereotypem und selbstverletzendem Verhalten bei einer geistigbeh. Jugendlichen
Jahren 1975 bis 1990 vor, die ausschließlich im angloamerikanischen Sprachraum erschienen sind. Sie kommen zu dem Ergebnis, daß die geringe Qualität der insgesamt 74 berücksichtigten Untersuchungen als enttäuschend zu bezeichnen sei. Insbesondere weisen sie kritisch darauf hin, daß grundlegende Informationen zu Transfereffekten, Langzeiteffekten(engl. Follow-Up), Bedingungsanalyse und sozialer Validierung bei der Mehrheit der Studien fehlen. Die Auswahl der Interventionen, von denen immerhin 21,4% auf aversive Verfahren wie Elektroschocks, Ammoniak etc. zurückgreifen, erscheine„in den meisten Fällen als punktuelles Ad-hocVorgehen“(ebd., 143). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Studie von Scotti et al.(1991), in der immerhin 318 empirische Studien— davon 99 zu selbstverletzendem und 111 zu stereotpyem Verhalten— aus den Jahren 1976 bis 1987 Berücksichtigung fanden. Die Qualität der untersuchten Studien, so die Autoren, sei höchst desillusionierend. Insbesondere gelte es, Aspekte einer funktionalen Analyse, Transfer- sowie Langzeiteffekte in stärkerem Maße als bisher zu berücksichtigen.
Theoretischer Hintergrund
Sowohl stereotype als auch selbstverletzende Verhaltensweisen stellen bei der Arbeit mit geistig behinderten Menschen ein vielfach belastendes und ernstzunehmendes Problem dar. Im Fall von selbstverletzendem Verhalten liegt dies in den gesundheitsgefährdenden, in Extremsituationen sogar lebensbedrohlichen Folgen begründet. Im Fall von stereotypem Verhalten hat sich gezeigt, daß es die Vorstufe zu selbstverletzendem Verhalten bilden kann, häufig stigmatisierend wirkt und somit die Integration erschwert und nicht selten negative Auswirkungen auf das Lernverhalten hat. Erklärungsmodelle und Interventionsansätze im Bereich stereotypen und selbstverletzenden Verhaltens sind zahlreich und, wie neuere Veröffentlichungen betonen, Ausdruck der Tatsache, daß es sich bei diesen Verhaltensweisen um vielschichtige und multifaktoriell beding
te Phänomene handelt. Wir wollen im folgenden zunächst die Problematik selbstverletzenden und stereotypen Verhaltens bei geistig behinderten Menschen erläutern und die häufigsten Erklärungsmodelle und Interventionsformen im Überblick vorstellen(Hettinger 1990, 1991; King 1993; Gorman-Smith& Matson 1985).
Die vorhandenen Erklärungsmodelle lassen sich im wesentlichen nach folgenden Gesichtspunkten ordnen(Hettinger 1990, 1991):
Neurologische Erklärungsansätze versuchen das Auftreten stereotypen und selbstverletzenden Verhaltens auf Störungen bzw. Schädigungen bestimmter Hirnregionen, Störungen der Neurotransmitterbalance oder intrinsische Steuermechanismen zurückzuführen. Interventionsansätze, die in diesem Zusammenhang entwickelt wurden, umfassen die pharmakologische Behandlung, z.B. mit Haloperidol und Chlorpromazin, chirurgische Eingriffe und körperliche Aktivierung mit dem Ziel, ähnliche neurochemische Prozesse auszulösen.
Da sich stereotype und selbstverletzende Verhaltensweisen auch bei nichtbehinderten Kindern beobachten lassen, haben entwicklungspsychologisch orientierte Erklärungsansätze das Auftreten dieser Verhaltensweisen bei geistig behinderten Menschen als Ausdruck einer verlangsamten kognitiven Entwicklung, die u.a. durch mangelnde Reife des Nervensystems und das Fehlen von alternativen Handlungsmustern gekennzeichnet sei, interpretiert. Ungünstige Umwelteinflüsse, wie sensorische oder soziale Deprivation, werden in diesem Zusammenhang als mögliche Einflußfaktoren genannt. Als Intervention wird insbesondere auf das von Ayres entwikkelte Konzept der Sensorischen Integration zurückgegriffen.
Lerntheoretische_Erklärungsmodelle bauen auf der Annahme auf, daß stereotypes und selbstverletzendes Verhalten vom geistig behinderten Menschen erlernt wurde: Entweder, indem die Umwelt diese Verhaltensweisen positiv(Zuwendungshypothese) oder negativ(Vermeidungshypothese) verstärkt, oder indem die Verhaltensweisen selbst bzw.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994
die daraus resultierenden Sinnesreize als Verstärkung empfunden werden(Selbstverstärkungshypothese). Ausgangspunkt lerntheoretisch orientierter Interventionsansätze ist die Überzeugung, daß stereotypes und selbstverletzendes Verhalten„verlernt“ werden kann: Durch positive Bestrafung, z.B. in Form von Elektroschocks, Ammoniakgeruch, Überkorrektur oder Ermahnungen, durch negative Bestrafung z.B. in Form von TimeOut oder Sichtblockaden oder positive Verstärkung angemessenen bzw. inkompatiblen Verhaltens. Darüber hinaus ist, ausgehend von der Zuwendungshypothese und der Vermeidungshypothese, auf deren Grundlage sich stereotypes und selbstverletzendes Verhalten als kommunikativer Akt interpretieren läßt, der Versuch unternommen worden, diese Verhaltensweisen durch funktionales Kommunikationstraining zu verringern. Erklärungsansätze auf der Grundlage der Reizverarbeitung und Erregungsregulation gehen davon aus, daß stereotypes und selbstverletzendes Verhalten zur Aufrechterhaltung eines optimalen Aktivierungsniveaus dient und vor Überbzw.-Unterstimulation schützt. Als mögliche Ursachen werden Beeinträchtigungen in der Reizverarbeitung aufgrund von Schädigungen bzw. Störungen des zentralen Nervensystems oder ein eingeschränktes Verhaltensrepertoire genannt. Interventionsansätze, die in diesem Zusammenhang eingesetzt werden, greifen insbesondere Aspekte sensorischer Stimulation auf, z.T. integriert in das Konzept der Sensorischen Integration(s.0.), z.T. durch Angebote von Aktivitäten oder Spielzeugen, die ebenfalls sensorisch stimulieren.
Ökologische Erklärungsmodelle haben sich auf Faktoren konzentriert, die möglicherweise Einfluß auf die Dauer und Häufigkeit stereotypen und selbstverletzenden Verhaltens haben. Es hat sich gezeigt, daß neue, ungewohnte und komplexe Situationen, Hunger, Frustration und die Verfügbarkeit von Spielmaterial, um nur einige Faktoren zu nennen, eine Rolle spielen können.
In jüngster Zeit sind Entwicklungen hin zu integrativen Erklärungsmodellen zu erkennen, die insbesondere auf die Be
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