Thomas Breucker- Intervention zur Reduktion von stereotypem und selbstverletzendem Verhalten bei einer geistigbeh. Jugendlichen
deutung einer funktionalen Analyse als Voraussetzung für eine erfolgreiche therapeutische Beeinflussung hinweisen.
Welche Rolle kann nun Pädagogische Musiktherapie bei der Verringerung stereotypen und selbstverletzenden Verhaltens spielen? Der Begriff der Pädagogischen Musiktherapie geht auf Werner Probst zurück und meint den gezielten Einsatz von Musik durch einen Sonderpädagogen zur Förderung außermusikalischer Lernbereiche in einem pädagogischen Umfeld(Kemmelmeyer& Probst 1981). Sie setzt sich damit deutlich von Unterricht in Musik und der im deutschsprachigen Raum z.Z. vorherrschenden psychotherapeutisch orientierten Musiktherapie ab. Obwohl in der einschlägigen Fachliteratur zahlreiche explorative Fallstudien, die sich mit stereotypem und selbstverletzendem Verhalten beschäftigt haben, dokumentiert sind(Alvin 1988; Nordoff& Robbins 1983; Orff 1990), ist die Anzahl empirischer Untersuchungen, die sich mit Pädagogischer Musiktherapie als Intervention bei stereotypem und selbstverletzendem Verhalten beschäftigt haben, wie Überblickartikel von Jellison (1987) und Schlosser& Goetze(1991) zeigen, vergleichsweise gering: in der Veröffentlichung Schlossers und Goetzes findet sich keine einzige Studie, in der Jellisons lediglich drei Studien zu diesem Thema. Die dort genannten Studien, stützen sich im wesentlichen auf das lerntheoretische Erklärungsmodell und benutzten musikalische Aktivitäten als positiven Verstärker angemessenen Verhaltens, ohne dies jedoch, z.B. durch die Ergebnisse einer funktionalen Analyse, zu begründen. Die oben genannten Fallstudien setzten insbesondere freie Improvisation auf Orff- und PercussionInstrumenten ein, um stereotypes und selbstverletzendes Verhalten zu reduzieren. Betont wird die Bedeutung der Musik als nonverbales Kommunikationsmittel sowie die Möglichkeit, durch musikalische Aktivitäten zu einer entspannten und als angenehm erlebten Atmosphäre zu gelangen und dem geistig behinderten Kind oder Jugendlichen Erfolgserlebnisse zu verschaffen.
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Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es aufzuzeigen, wie sich empirischanalytisches Vorgehen und Einfühlendes Verstehen im Rahmen einer quasi-experimentellen Einzelfallstudie sinnvoll ergänzen, denn letztlich wird sich der Anspruch, Einzelfallforschung sei„praktische,(...), wissenschaftlich redliche und im wörtlichen Sinne sonderpädagogische Forschung“(Wember 1989, 186) nur so realisieren lassen. Es soll versucht werden, auf der Grundlage einer funktionalen Analyse von stereotypem und selbstverletzendem Verhaltens durch gezielte musiktherapeutische Intervention die Häufigkeit dieser Verhaltensweisen bei einer geistig behinderten Jugendlichen zu reduzieren. Darüber hinaus soll die implementierte Intervention sowie eventuelle Transfer- und Langzeiteffekte durch die kontrollierte Analyse im Rahmen eines quasi-experimentellen Einzelfalldesigns geprüft und evaluiert werden.
Methode
Die Untersuchung wurde in der Zeit vom Mai bis Juli 1991 an 49 Schultagen in einer Schule für Geistigbehinderte(Sonderschule) am nördlichen Rande des Ruhrgebietes durchgeführt.
Beschreibung der Jugendlichen und ihrer Situation
L. war zum Zeitpunkt der Untersuchung 16;0 Jahre alt und besuchte seit dem Schuljahr 1981/82 die Schule für Geistigbehinderte. Bei einem im Jahre 1985 durchgeführten nonverbalen Intelligenztest(S.O.N. 2%-—7) hatte sie durchschnittlich die Leistungen einer 3jährigen erbracht. Ihre kommunikativen Fähigkeiten, vor allem ihr aktiver und passiver Wortschatz, waren stark eingeschränkt. Im sozial-emotionalen Bereich wirkte L. sehr unsicher, angespannt und nervös und in starkem Maße abhängig von Rückmeldungen und Bestätigungen, insbesondere von Seiten ihrer Lehrerinnen.
Am Anfang der Untersuchung standen
Gespräche mit signifikanten Bezugspersonen L.s, ihren Lehrerinnen und El
tern, die der sozialen Validierung bei der Wahl des Problemverhaltens dienten(Kazdin 1982). Ziel war es, mögliche Problembereiche im Verhalten L.s zu identifizieren und Bereiche auszumachen, in denen Veränderungen besonders vordringlich und wünschenswert wären und von denen L. am meisten profitieren würde.
Es zeigte sich, das L.s stereotypes, in Extremsituationen sogar selbstverletzendes Verhalten, für das gravierendste Problem gehalten wurde, nach Einschätzung der Lehrerinnen Ausdruck von L.s Unsicherheit und mangelndem Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Der Versuch, die Häufigkeit selbstverletzenden Verhaltens durch positive Verstärkung angemessenen Verhaltens zu verringern, habe lediglich zu einer Verlagerung des Problems geführt; es sei zwar gelungen, die Häufigkeit selbstverletzenden Verhaltens zu verringern, gleichzeitig sei es aber zu einer Steigerung stereotypen Verhaltens gekommen. Zu Recht weist Wember(1991, 64) darauf hin, daß„(...) das Handeln der Akteure nicht losgelöst vom situativen Kontext, nicht isoliert von den Sinndeutungen und Interpretationen der Akteure und nicht losgelöst von deren Zielvorstellungen und aktivem Bemühen um Sinnfindung betrachtet“ werden kann. Dies gilt auch für die Beurteilung stereotypen und selbstverletzenden Verhaltens, das sich folglich als„Kompetenz“ interpretieren läßt, die für den geistig behinderten Menschen eine bedeutsame Möglichkeit der Auseinandersetzung mit sich und seiner Umwelt darstellt(Hettinger 1990). Aus diesem Grund stand die funktionale Analyse von stereotypem und selbstverletzendem Verhalten am Anfang der Untersuchung.
Die funktionale Analyse erstreckte sich über einen Zeitraum von einer Woche, in der die Schülerin täglich, jeweils einen halben Schultag lang, beobachtet wurde. Es zeigte sich, daß stereotypes Verhalten besonders in zwei Situationen auftrat: zum einen in„Leerlauf-Situationen“, z.B. in Pausen, zum anderen in aufregenden Situationen, z.B. bei der
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994