Thomas Breucker- Intervention zur Reduktion von stereotypem und selbstverletzendem Verhalten bei einer geistigbeh. Jugendlichen
Ankündigung einer bevorzugten Aktivität oder der Aufforderung vom Wochenende zu berichten. Selbstverletzendes Verhalten, das im Vergleich zum stereotypen Verhalten relativ selten auftrat, ließ sich nicht immer eindeutig besonderen Ereignissen zuordnen. Es trat allerdings häufig bei Konflikten mit den Lehrerinnen und Mitschülern auf. Dies galt ganz besonders für Situationen, in denen L. sich gegenüber Anderen nicht durchsetzen konnte. In der Regel reagierten weder die Lehrerinnen noch die Schülerinnen und Schüler auf L.s stereotypes und selbstverletzendes Verhalten.
Wie sind diese Beobachtungen nun im Hinblick auf die funktionale Analyse sowie eine geeignete Förderung zu interpretieren? Das Auftreten von stereotypem Verhalten in„Leerlauf-Situationen““ läßt sich zum einen mit der sogenannten„Selbstverstärkungshypothese‘ erklären, zum anderen könnte es der Selbststimulation dienen. Interventionsansätze, die in diesem Zusammenhang erfolgreich eingesetzt wurden, greifen insbesondere Aspekte der sensorischen Stimulation auf. Das Auftreten stereotypen und selbstverletzenden Verhaltens in aufregenden Situationen könnte ebenfalls der Erregungsregulation dienen. Auch hier könnte sich eine Intervention anbieten, die auf sensorische Stimulation baut. Das Verhalten der Lehrerinnen sowie der Mitschüler und-schülerinnen, die nicht auf L.s stereotypes und selbstverletzendes Verhalten reagieren, ist insofern von Bedeutung, als Erklärungsmodelle, die die Reaktionen der Umwelt in Form positiver bzw. negativer Verstärkung beim Auftreten von stereotypem und selbstverletzendem Verhalten betonen, im Fall von L. wenig plausibel erscheinen(Hettinger 1990, 1991).
Abhängige Variable
Sowohl stereotype als auch selbstverletzende Verhaltensweisen lassen sich in einer Vielzahl unterschiedlicher Formen beobachten(Kauffmann 1989). Aus diesem Grund erschien es notwendig, diese bezogen auf L. zu konkretisieren.
Die benötigten Informationen darüber, welche Formen stereotypen und selbstverletzenden Verhaltens L. zeigt, wurde in der der funktionalen Analyse dienenden Phase zu Beginn der Untersuchung gewonnen. Zu den von L. gezeigten stereotypen Verhaltensweisen gehören: Wippen mit dem Fuß/Bein, Schaukeln mit dem Oberkörper, nicht-funktionales Manipulieren von Gegenständen(Bleistiften, Haargummis, Armbanduhren, Kleidungsstücken, etc.), nicht-funktionales Trommeln mit den Fingern auf Gegenständen, Körperteilen. Selbstverletzende Verhaltensweisen umfaßten das Knibbeln an den Fingerkuppen und Lippenbeißen.
Unabhängige Variablen
Während der Interventionsphase Soziale Zuwendung, die während einer Klassenfahrt stattfand, hatte L. die Möglichkeit, an jedem Nachmittag jeweils für eine halbe Stunde allein und ungestört mit dem Versuchsleiter Spiele ihrer Wahl zu spielen. Ziel dieser Phase war es, zum einen zu überprüfen, ob soziale Zuwendung allein möglicherweise schon ausreicht, um zu einer Verringerung stereotypen und selbstverletzenden Verhaltens beizutragen. Zum anderen sollte die Möglichkeit geschaffen werden, soziale Zuwendung, und Pädagogische Musiktherapie, die genaugenommen aus der Kombination einer programmunspezifischen Komponente, der sozialen Zuwendung und einer programmspezifischen Komponente, dem gezielten Einsatz von Musik zur Verringerung stereotypen und selbstverletzenden Verhaltens, besteht, vergleichend zu evaluieren, um so zu differenzierteren Aussagen über das Maßnahmenpaket Pädagogische Musiktherapie zu gelangen.
Die Idee, daß Pädagogische Musiktherapie im Fall von L. möglicherweise erfolgversprechend eingesetzt werden könnte, ergab sich aus Gesprächen mit L.s Bezugspersonen, die übereinstimmend L.s Interesse an Musik betonten, das jedoch weder in der Schule noch im Elternhaus besonders gefördert wurde. Darüber hinaus ergab die funktionale
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994
Analyse des Problemverhaltens, daß verschiedene Ansatzpunkte für eine musiktherapeutische Intervention gegeben sind. Zum einen bietet das Instrumentalspiel zahlreiche Möglichkeiten der sensorischen Stimulation, zum anderen läßt sich in einer freien Improvisation Musik als nonverbales Kommunikationsmittel nutzen, was angesichts L.s eingeschränkten kommunikativen Fähigkeiten besonders bedeutsam erscheint.
Die Pädagogische Musiktherapie mit L. fand täglich im Musikraum der Schule statt: montags und freitags jeweils von 9.30 Uhr bis 10.00 Uhr während einer Freispiel-Phase vor dem Frühstück, dienstags bis donnerstags von 13.30 bis 14.00 Uhr während der„Großen Pause“, Die Sitzungen waren so strukturiert, daß das gemeinsame Spiel auf dem Xylophon jeweils den Beginn einer Sitzung markierte, gefolgt von Phasen freier Improvisation auf verschiedenen Instrumenten, in denen der Versuchsleiter das von L. Gespielte melodisch, rhythmisch oder dynamisch aufgriff, wiederholte oder variierte, um mit L. musikalisch „ins Gespräch“ zu kommen im Sinne von„wechselseitiger Anpassung an einen anderen und Einflußnahme auf ihn“ (Mall 1990, 31). Die verwendeten Instrumente(Xylophon, Maracas, Holzblock, Handtrommel, Congas und Claves) sind von L. ohne Vorkenntnisse spielbar und stellen ihre stereotypen Verhaltensweisen in einen neuen, sinnvollen Handlungszusammenhang. Um eine Überforderung durch sprachliche Anweisungen zu vermeiden und den eingeschränkten sprachlichen Fähigkeiten L.s Rechnung zu tragen, wurde weitestgehend auf verbale Erklärungen und Aufforderungen verzichtet. Um Konfliktsituationen mit dem Versuchsleiter zu vermeiden und L. Gelegenheit zu geben, Entscheidungen selbst zu fällen, ohne dabei Gefahr zu laufen, zu scheitern, bestimmte L. den Zeitpunkt, an dem zu einem neuen Instrument gewechselt wurde. Den Abschluß jeder Sitzung bildet das gemeinsame Anhören von „Spirit No. 23“ von Keith Jarrett. L. sollte Gelegenheit erhalten, die durch das Musizieren erreiche Gelöstheit zu spüren und sich zu entspannen. Außerdem
31