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Lebenshilfe:„Der Kongreß hat sein Ziel erreicht“
Menschen mit geistiger Behinderung auf dem Weg zu mehr Sebstbestimmung
„Duisburger Erklärung‘ von 800 Teilnehmern verabschiedet
„Jeder Mensch muß als Mensch behandelt werden!‘ So lautet ein Kernsatz der„Duisburger Erklärung“, am 1. Oktober 1994 verabschiedet beim Lebenshilfe-Kongreß„Ich weiß doch selbst, was ich will!— Menschen mit geistiger Behinderung auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmung“. In dem vom Programmkomitee behinderter Menschen vorbereiteten Papier heißt es warnend: „Wenn Politiker von Selbstbestimmung sprechen, heißt das nicht, das sie damit Geld sparen können. Denn Selbstbestimmung heißt nicht, daß man ohne Hilfe lebt.“
Im weiteren werden Wahlmöglichkeiten in den Bereichen Schule, Wohnen, Arbeit und Freizeit gefordert. Außerdem stehen mehr Mitbestimmung in der Werkstatt für Behinderte, richtige Arbeitsverträge und„soviel Geld, wie man zum Leben braucht“ oben auf der Wunschliste.
Beabsichtigt ist auch,„Gruppen zu bilden, in denen wir miteinander reden können.“ Vorbilder für eine Selbstorganisation geistig behinderter Menschen gibt es in England („People first“), den Niederlanden und Schweden. Aus Göteborg war die behinderte Sprecherin des Vereins„Grunden‘, Anna Strand, gekommen, um für das schwedische Modell von Abtgeilungen für geistig behinderte Menschen innerhalb der Eltern- und Fachvereinigung FUB zu werben. Unterstützt wurde ihr Appell von Victor Wahlström, dem Präsidenten der Internationalen Liga von Vereinigungen von Menschen mit geistiger Behinderung. Er berichtete von den Erfahrungen der Mitarbeit geistig behinderter Menschen im Verein und sagte:„Es ist ein Menschenrecht, Einfluß auf sein eigenes Leben zu haben und in Organisationen und der Gesellschaft mitzuwirken.“
Die Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte kann mit dem Verlauf des Kongresses für 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, davon etwa 300 mit geistiger Behinderung, zufrieden sein. Das Kongreßpräsidium teilten sich Arno Klotz aus
der Gießener Werkstatt für Behinderte und Prof. Martin Th. Hahn, Mitglied im Bundesvorstand der Lebenshilfe.
In 150 Einzelveranstaltungen wurde fünf Tage lang gearbeitet und gefeiert. Um niemanden mit langen Reden zu überfordern, gab es Videobeiträge, Workshops, Spiele, Theaterszenen, Talk-Runden, eine Kongreßzeitung, ein Kongreßlied und überhaupt viel Musik und Bewegung. Nicht enden wollte der Beifall für die Aufführung von„Fast Faust — ein großes Goethöse‘“ von Blaumeier, einem Bremer Projekt für„Kunst und Psychjatrie‘“. Dazu waren auch viele Theaterbesucher aus Duisburg und Umgebung gekommen.
„Der Kongreß hat sein Ziel erreicht. Jetzt kommt es darauf an, was die Lebenshilfe aus den Ergebnissen macht“, so Dr. Theo Frühauf, Leiter des Bereichs Familie und
„Ich weiß doch selbst, was ich will!“
Menschen mit geistiger Behinderung auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmung
Fachfragen der Bundesvereinigung Lebenshilfe. In der Mitgliederversammlung der Bundesvereinigung Lebenshilfe, die sich an den Kongreß anschloß, nahmen Vertreter örtlicher Lebenshilfe- Vereinigungen sich vor, die Duisburger Erklärung ernst zu nehmen und neue Formen der Beteiligung und der Selbstbestimmung geistig behinderter Menschen zu erproben.
Die Bundesvereinigung Lebenshilfe mit rund 130.000 Mitgliedern in 544 Orts- und Kreisvereinigungen hält Angebote für etwa 120.000 Menschen mit geistiger Behinderung in der ganzen Bundesrepublik bereit. Eine Dokumentation über den Kongreß wird vorbereitet. Die Duisburger Erklärung und weitere Informationen über den Kongreß sind erhältlich bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte, Raiffeisenstraße 18, 35043 Marburg, Tel. 06421/491-0.
Kongreß
der Bundesvereinigung Lebenshilfe für
geistig Behinderte e.V.
Samstag, 1. Oktober 1994
Duisburger Erklärung
Wir möchten mehr als bisher unser Leben selbst bestimmen. Dazu brauchen wir andere Menschen. Wir wollen aber nicht nur sagen, was andere tun sollen. Auch wir können etwas tun!
Wir wollen Verantwortung übernehmen. (Zum Beispiel in der Werkstatt nach der Pause pünktlich mit der Arbeit anfangen.)
Wir wollen uns auch um schwächere Leute
kümmern. Auch schwerbehinderte Men
schen können sagen, was sie wollen. Vielleicht nicht durch Sprache, aber man kann es im Gesicht sehen oder am Verhalten.
Niemand darf wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden.
(Zum Beispiel soll eine Familile mit behindertem Kind genauso wie andere eine Wohnung mieten können.)
Alle haben das Recht, am Leben der Ge
meinschaft teilzunehmen.
(Zum Beispiel soll niemand in einer Psychiatrischen Klinik wie im Gefäng
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994
nis leben müssen. Sie ist kein Ort zum Leben.) Jeder Mensch muß als Mensch behandelt werden! (Zum Beispiel ist es nicht in Ordnung, wenn man behinderte Menschen abfüttert oder ihnen sagt, wann sie ins Bett oder zur Toilette gehen sollen.) Wenn Politiker von Selbstbestimmung sprechen, heißt das nicht, daß sie damit Geld sparen können. Denn Selbstbestimmung heißt nicht, daß man ohne Hilfe lebt.
Selbst zu bestimmen heißt, auszuwählen und Entscheidungen zu treffen:
Wir möchten die Wahl haben, in welche Schule wir gehen: zusammen mit Nichtbehinderten in die allgemeine Schule oder in die Schule für Geistigbehinderte.
Wir möchten die Wahl haben, wo und wie wir wohnen: mit den Eltern, zu zweit oder mit Freunden, im Wohnheim, in einer Außenwohngruppe oder Wohngemeinschaft.
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