Editorial
Mit dem vorliegenden Heft 4/94 der Heilpädagogischen Forschung schließen die Herausgeber den 30. Jahrgang dieser Zeitschrift ab, die 1964 unter der Federführung ihres Begründers und Erstherausgebers Dr. Dr. Helmut v. Bracken (1899-1984) das erste Mal erschien.
V. Bracken war 1955 vom Hessischen Kultusminister als Leiter der„Lehrgänge zur Ausbildung von Sonderschullehrern“ nach Marburg gerufen worden und hatte ein wahrhaft interdisziplinäres Ausbildungskonzept für Sonderschullehrer komponiert, das die„Lehrgänge...“ 1963 in den Rang eines Universitätsinstituts für Heil- und Sonderpädagogik zu erheben rechtfertigte, des ersten auf deutschem Boden überhaupt. Interdisziplinär wie das Ausbildungsprogramm für Sonderschullehrer war auch v. Brackens wissenschaftliche Statur selbst, der sich in dieser Reihenfolge zum Sonderschullehrer, zum Psychologen und zum Mediziner gebildet hatte. Dieses Format, diese Breite, seine wissenschaftliche Vielseitigkeit und seine auch internationalen Kontakte dürften unter heutigen Qualifikationsbedingungen schwerlich nachzuholen sein.
In den 60er Jahren also, auf der Höhe seiner wissenschaftlichen Laufbahn formte v. Bracken das Konzept dieser Zeitschrift. Er ging von dem empirisch belegten Trend aus, daß mindestens 8% sämtlicher Volksschüler so stark körperlich oder geistig behindert waren, daß ihnen die allgemeine Schule nicht die rechte Bildungshilfe geben konnte. Man sah den raschen Ausbau heilpädagogischer Schulen und Einrichtungen als nötig an, der dann ja auch geschah. Die gegründete Zeitschrift sollte der wissenschaftlichen Untermauerung und Begleitung des expandierenden sonderpädagogischen Praxisfeldes dienen. Sie hatte nicht ihresgleichen. V.Bracken hatte zwar 1953 bereits die Psychologischen Beiträge gegründet, fand aber, daß der multidisziplinäre Schmelztiegel Heilpädagogik ein eigenes Forum zum Präsen
tieren, Bündeln und zum Anregen heilpädagogischer Forschungen brauchte. Er und sein Mitherausgeber Hermann Wegener luden im Editorial 1964 zu empirischen Arbeiten über die verschiedenen Formen psychischer und somatischer Normabweichungen und ihre Auswirkungen auf Bildungsprozeß und Bildungshilfe, aber auch zu theoretischen Abhandlungen ein. Im weiten Kreis der eingeladenen Fächer und Nachbarwissenschaften war bereits auch die Soziologie genannt.
Dennoch war der Focus der wissenschaftlichen Bemühungen eindeutig auf das individuelle behinderte Kind, auf seine Eigenschaften und Besonderheiten sowie sein Recht auf Bildung und Förderung gerichtet. V.Brackens Forschungen kennzeichneten ihn als Enkel Wilhelm Wundts, mit Wilhelm Peters als akademischem Vater, in deren Tradition er vielfältige empirische Studien zum Lernverhalten, zur Persönlichkeitspsychologie, zur Familienähnlichkeit u.v.m. durchführte.
Zwei Essentials von v. Brackens wissenschaftlicher Ausrichtung(dem.individuell-psychologischen und dem empirischen Zugang) erwuchsen ab den 70er Jahren Gegenpositionen. Die individuelle Besonderheit und Hilfsbedürftigkeit des behinderten Kindes, welche die ebenso speziellen Bemühungen und Aufwendungen ethisch erfordern, wurden immer weniger betont, ja, sie wurden als Besonderung zunehmend in Abrede gestellt. Stattdessen wurde betont, daß es gesellschaftliche, später auch, daß es systemisch zu verstehende Wirkungen sind, die sich an der Indexperson des auffälligen Kindes manifestieren; es selbst ist davon eigentlich nur sichtbarer geschädigt, aber die unsichtbaren Noxen bedrohen nicht minder und schädigen z.T. auch seine nicht-behinderten Mitschüler. Nach dieser Botschaft soll die(Sonder-)Pädagogik„dem behinderten Kinde“ mehr zu seiner auch in ihm
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 4, 1994
angelegten Normalität verhelfen. Und es stößt sogar auf Kritik, wenn nur unter dem Etikett individuell verbrieften Sonderpädagogischen Förderbedarfs Ressourcen locker zu machen sind.
Die Relativierung des durch v. Brackens Geist und Generation betonten individuellen Charakters von Behinderung und Bedürftigkeit führte zum Verwischen der einst differentialpsychologisch bestimmten Unterschiede zwischen xy-behinderten und unbehinderten Kindern.
Die Widerlegung oder Leugnung wesentlicher Unterschiede führte zu teils optimistischen, teils trotzigen, teils paradoxen Slogans wie: Normalisierung, wir können es ja doch, tutti uguali, tutti diversi, bis zu Kobis nicht-behinderten Behinderten und behinderten Nicht-Behinderten.
Demnach ist v. Brackens Interesse an der individuellen Besonderheit des behinderten Kindes durch das Interesse an den Lernmöglichkeiten aller Kinder, einschliesslich der Kinder mit beeinträchtigenden Voraussetzungen, abgelöst worden. Dabei bleibt v. Brackens Ziel gewahrt, dem behinderten Kind zu seinem Bildungsrecht zu verhelfen, nur eben unter weniger absondernden Umständen.
Von dieser— sagen wir— zwei Jahrzehnte währenden Verschiebung der Sichtweise und Methode ist auch das empirische Paradigma betroffen. Ein einerseits hochindividuelles Realitätsfeld mit zunehmend emanzipierten Behinderten, die die ihnen zugewiesen Schonräume verlassen und andererseits ein komplexes Praxisfeld mit vielen, vielen desorientierten und beeinträchtigten nicht-behinderten Kindern und Jugendlichen, die nicht sonderpädagogisch deklariert sind, hat sich aufgetan. Wenn nämlich Populationen mit einer bestimmten Behinderung oder Schulzugehörigkeit nicht mehr als diskrete Klassen gelten können und sollen, so hebt
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