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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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dies wichtige Koordinaten differential­psychologischer Forschung aus den An­geln. Solche Forschung geschah aber, teils mit kontrastiver Optik(die Beson­derheit der Sonderschüler auf der Folie der Regelschüler abbilden oder vice versa); sie geschah aber auch unter dem Interesse, den Ruf von Sonderschülern durch Nachweise ihrererstaunlichen Kompetenzen aufzubessern. Derartige Veröffentlichungen(über psychologisch­diagnostische Methoden) bestritten den größten Teil der Beiträge, wie eine Bi­lanz auswies, die v. Bracken 1978 zum 70. Geburtstag des Verlegers der HEIL­PÄDAGOGISCHEN FORSCHUNG, Wolf­gang Jäh, vorlegte.

Weitere Eckpfosten des klassischen em­pirischen Paradigmas werden locker, wenn von ganzheitlicher und systemi­scher Theorie und ökopsychologischen Zugang geleitet, immer komplexere Lernsituationen und Lebensumwelten zu erfassen gefordert wird. Die experimen­telle Untersuchung isolierter Variablen in pädagogischen Situationen wird dann schnell als reduktionistisch verstanden und von weiten Teilen der(heil-)pädago­gischen Profession kaum noch goütiert.

Einer bewährten Argumentation folgend könnte ich die Verdienste unseres Ahn­herrn mit Verweis auf seine Epoche, auf ihre historische Fortschrittlichkeit, ih­ren humanen Charakter und ihre wis­senschaftlichen Qualitäten würdigen. Gewiß, das geht.

Ich finde es aber interessanter, die zwei Elemente seinerDoktrin aufzugreifen und aufzuheben: Besonderheiten, inter­individuelle Probleme beeinträchtigter Menschen(1) und empirischer Zugang zu ihrer Realität(2).

Zum Ersten: Schäden und Beeinträchti­gungen zu negieren, sie herunterzu­spielen, beseitigt sie nicht, vergrößert sie im Erleben des Betroffenen sogar eher. Das Kind, dem ich seinen Schmerz über den gestossenen Kopf ausreden will, weint stärker. Die optimistisch und auf­munternd gemeinte Betonung noch vorhandener Kompetenzen und erreich­ter Fortschritte durch Helfer und Förde­

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rer hat aber zwei Nebenwirkungen: 1. Sie nehmen dem Beeinträchtigten einen Teil seiner Identität und verringern sei­ne Chancen, Trauer und Verarbeitung des Handicaps mit jemandem zu teilen. 2. Das Herunterdefinieren von Beein­trächtigung oder Andersartigkeit entla­stet den Nichtbehinderten von seinem Aufwand an Empathie. Die normalisie­rende Sichtweise kann dabei die Aus­einandersetzung mit der Andersartigkeit verhindern oder erschweren. Ein Bei­spiel: Wie begeistert war ich von Nadja M., 23 Jahre und Studierende der Psy­chologie, die drei Jahre nach ihrer halb­seitigen Lähmung infolge eines Auto­unfalls mithilfe ihres phantastischen Lie­ge-trikes fast so mobil wie ein sportli­cher Normalradler wurde. Ich erlebte das als eine beeindruckende Rehabilitation und Normalisierung einer körperbehin­derten jungen Frau. Unter ihrer ihre Um­welt so entlastenden Erscheinung aber plante sie ihren Suicid: Am 3. Jahrestag ihres Unfalles, sogar nach einem exoti­schen Urlaub, ließ sie sich vom Zug überrollen.

Unter der gut kompensierten Schädigung bleibt Schmerz.

Ich meine, daß das Annehmen von Ne­gativem, die Trauer über eingeschränk­te Möglichkeiten, also das Anerkennen individueller Beeinträchtigungen zum Optimismus der Helfer, Betroffenen und Forscher dazutreten soll. Bewältigung folgt nicht aus dem Verwischen der in­dividuellen Unterschiede, sondern aus dem Interesse an dem und aus der Berei­cherung durch das von mir verschiede­ne Gegenüber.

Zum zweiten: der klassische empirische Zugang der Psychologie und Pädagogik Behinderter droht ins Abseits zu führen. Nach ihrer Erweckung und Befruchtung durch die differentielle(diagnostische) Psychologie(der ein Dutzend von Son­derpsychologen wie z.B. ich ihre Professuren verdanken) hat die Pädago­gik und Psychologie Behinderter das Brauchbare aus deren Mitgift assimiliert und in körpereigene Stoffe verwandelt. Vieles wurde geprüft und manches für unbrauchbar befunden.

Mit der Entwicklung und Konturierung der Behindertenpädagogik sind aber auch neue Anforderungen und dabei Erschwerungen für die empirische For­schung entstanden. Mir scheinen es fol­gende zu sein:

Möglicherweise befaßt sich die Pädago­gik und Psychologie Behinderter aus­schließlicher mit ihrem eigenen Klientel und dies nicht mehr so sehr im Kontrast zu anderen, etwa Nicht-Behinderten. Die ganzheitliche Sicht und systemische Theorie stellt das Herauslesen und Iso­lieren von Untersuchungsvariablen in­frage. Mit dem Wahrnehmen der Indi­vidualität und den möglicherweise be­sonders differenzierten Lebenslagen be­einträchtigter Menschen verringert sich der Raum für nomothetische Aussagen zugunsten der idiografischen Anteile in Darstellungen und Lösungswegen. Em­pirische Arbeiten könnten daher stärker auf kleine Stichproben, auf Effektstär­kenmessung, auf individuelle Längs­schnittstudien setzen statt auf repräsen­tative Stichproben und statistische Signi­fikanzen.

In den Praxisfeldern der Sonderpädago­gik(nämlich vom Kindergarten bis zur Beschützenden Werkstatt) mischen sich etikettierte und nicht-etikettierte Behin­derte. Vielenormale Kinder sind in ihrem Leisten und Erleben stärker ge­stört als offiziell anerkannte Behinder­te. Die Evaluation von Förderung wird ihre Versuchsgruppen weniger nach son­derschulbezogenen Klassifikationen als nach individuellen Lern-(ausgangs-)la­gen bilden müssen.

Möglicherweise verlagert sich auch das Interesse von der erklärenden und inter­pretierenden Forschung mehr zur Kon­struktion geeigneter Wege der Unter­richtung und Behandlung mit dem Ziel, gangbare Wege und Verfahrensweisen (präskriptiv) nahezulegen.

Zweifellos steht es der Zeitschrift HEIL­PÄDAGOGISCHE FORSCHUNG gut an, am Ratschlag des Empiristen John Locke keep close to experience festzuhalten und Aufschlüsse über die Realität durch Erfahrung(nämlich empeiria gr. im ur­sprünglichen Sinne) zu suchen. Gleich­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 4, 1994