Heft 
(2016) 101
Seite
13
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»Man kann sich kaum größere Gegensätze denken« Nürnberger 13 ­beobachteten und erlitten, vermag sie allerdings nur unzureichend zu ver­mitteln. Begreiflicherweise fanden es gerade die ›Vernünftigen‹ später schwer, das Unbegreifliche zu verstehen. Wer die politischen Verirrungen, ideologischen Exzesse besonders der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahr­hunderts erlebte, mochte geneigt sein, das vorangegangene neunzehnte noch als ein ›Zeitalter der Sicherheit‹ 11 anzusehen, mit gewissen Schön­heitsfehlern zwar, aber doch beherrscht von als unverlierbar erachteten humanen Werten. In Wirklichkeit waren die gefährlichen Erreger, denen das geistige Klima in Mittel- und östlichem ›Zwischeneuropa‹ besonders gut bekam, schon am Werk. Eigentlich trieben sie überall ihr Unwesen und ganz ohne eine Infektion ging es selten ab. Bevorzugt befielen sie auch Li­teraten, die sie austrugen in von ihnen geformten nationalen Heldenlie­dern und Mythen zuweilen hatten sie sie selbst gefälscht, vaterländi­schen Gedichten, historischen Romanen und natürlich in Zeitungen. Lübke zählte sicherlich nicht zu den am stärksten Infizierten, die Leser seiner Re­zension mochten vielleicht gar nichts Störendes bemerken oder sie haben, wenn sie dem Gelesenen nicht zustimmten, die Blätter achselzuckend zur Seite gelegt. Vielleicht hat ihnen bei der späteren Lektüre das Verhalten von Bothos ›ritterlichen‹ Regimentskameraden Anlass zum Nachdenken gegeben. Aber was redet man nicht alles in einer vermittelten Welt? Auch ein Rezensent kocht mit Wasser. Für Fontane bedeuteten die zunächst umstrittenen Irrungen, Wirrun­gen den endgültigen künstlerischen Durchbruch, den zu nutzen ihm noch ein Jahrzehnt an Lebenszeit, das ertragsreichste seines Schaffens, be­schieden war. Lübke konnte beides nicht vorhersehen, aber seine konser­vative Grundeinstellung ließ ihn Irrungen, Wirrungen eher mit einer ge­wissen Vorsicht behandeln. Von den moralischen und standespolitischen Verdikten, die den Vorabdruck in der Vossischen Zeitung begleiteten, wird er gewusst haben. Zur 1884 in Berlin gegründeten Zwanglosen Gesell­schaft, einem Freundeskreis um Theodor Fontane, maßgeblich besetzt mit jüngeren Intellektuellen aus verschiedenen Berufen, nicht zuletzt Kriti­kern, die sich gerade für Irrungen, Wirrungen entscheidend einzusetzen entschlossen waren, hatte er mutmaßlich keine Verbindung. Soviel zum ›Heute‹ der Leser von ›Damals‹. Der spätere Leser begegnet keinem ›Heute‹, sondern dem ›Damals‹ der Rezeptionsgeschichte. Der Text macht ihn nicht mehr zum Zeugen eines aktuellen Prozesses, auch nicht der Verheißungen und Unsicherheiten einer noch offen scheinenden Zu­kunft. Ihm wird vor Augen gestellt, wie man die einstige Gegenwart ›da­mals‹ sah und welche Vorstellungen von der Zukunft sich damit verban­den. Manches mag ihn überraschen und seine bisherigen Vorstellungen korrigieren, aber insgesamt weiß er naturgemäß besser als der Schreiber, wie es weiterging. Je aufmerksamer er sich über das Zurückliegende be­reits informiert hat, umso weniger wird er dieser Lektüre bedürfen. Auch