Heft 
(2016) 101
Seite
16
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16 Fontane Blätter 101 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes schwerlich, mangelnde Kenntnis der Verhältnisse wäre das Letzte gewe­sen, was man Marie Ebner hätte vorwerfen können. Sie war in ihren Ge­fühlen nicht gespalten, widerstritt adligem Versagen nicht aus enttäusch­ter Liebe, sondern einem elementaren Impuls folgend, den schon das Kind erkennen ließ. Es wird erzählt, dass die ›Baronesse‹ mit ihren kleinen Fäus­ten dem ›Burggrafen‹(für die Ökonomie zuständiger Schlossbeamter) zu Leibe ging, als der brutal einen Teicharbeiter prügelte. 15 Kein ›verklärender‹ Realismus, gelegentlich eher schon Gerechtigkeit heischende, kompromisslose Michael Kohlhaas-Züge. Für die österreichi­schen ›Spätrealisten‹ spielte die epochengeschichtliche Theorie, wie sie sich in den Benennungen niederschlug, keine maßgebliche Rolle, die Über­gänge vollzogen sich ohne scharfe Kanten; so entsprach es auch eher der hauseigenen Mentalität. Ferdinand von Saar, dem Bekenntnis nach gewiss kein ›Naturalist‹, konnte 1983 anlässlich einer ihm gewidmeten Ausstel­lung ein»Wegbereiter der Moderne« genannt werden, in die seine Novel­len aus Österreich fast bruchlos mündeten. Wenn er 1895 an die Ebner schrieb:»Dazu noch diese Meinungsverschiedenheiten in der Kunst. Das reine Chaos! Früher wußte man wohin man zu steuern habe: nach einem gesunden Real-Idealismus« 16 , so war er gar nicht so weit von Fontane ent­fernt, der auf die Frage:»Lieben Sie das Ideale oder Reale« geantwortet hatte:»Die Diagonale.« 17 Die Zeit der ›Spätrealisten‹ in Mähren und Wien war auch die, in der Fontane und Raabe ihre Meisterwerke schrieben. Als hinderlich für ihre dichterischen Interessen begegneten der Öster­reicherin spezifische Schwierigkeiten: eine über viele Generationen hin­weg nachwirkende katholisch-gegenreformatorische Barockkultur, in der Musik und bildende Kunst dem Wortkunstwerk vorangingen. In seiner Nacherzählung einer Episode aus Comtesse Muschi hätte Lübke die Ver­nachlässigung der Schlossbibliothek besser als mit dem»Treiben gewisser vornehmer Sportfreunde« mit»durch die adligen Besitzer« erklärt, so hat­te es die Ebner jedenfalls gemeint. Solche Umstände bewirkten eine Ver­spätung, wohl auch ein Gefühl von Inferiorität, das es den österreichischen Schriftstellern schwer machte, ihre Eigenart in der Begegnung mit ihren protestantischen Kollegen sicher zu vertreten, zumal diese sich keineswegs bemüht zeigten, ihre Überlegenheit zu verbergen. Joseph Roth hat Grill­parzers Besuch bei Goethe in Weimar anrührend kommentiert.»Es sah aus wie die Begegnung des Kahlenbergs mit dem Olymp: tragisch, weil der Kahlenberg unterschätzt wurde.« 18 Das änderte sich grundlegend erst, als der Aufstieg eines jüdischen Bürgertums Wirkungen zeitigte, Wien und Prag mit den Namen und Werken großer Dichter zu glänzen begannen. Andererseits wurde nach 1866 und der Reichsgründung 1871 Literaturge­schichte eher im kleindeutschen Geiste geschrieben.»Selbstverständlich reflektieren auch die ›österreichischen‹ Literaturgeschichten die Zwie­spältigkeit der Situation«, fasst Roger Bauer 1980 zusammen, fügt aber in