18 Fontane Blätter 101 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes Gräfin« in ihrem letzten Lebensjahren die Zukunft Österreichs sah: Bereits über den Ersten Balkankrieg schreibt sie, sie gönne»den tapferen Bulgaren alles Gute, aber daß jetzt auf dem Balkan an der Zertrümmerung Österreichs gehämmert wird, das ist ausgemacht, und mein altösterreichisches Herz blutet« 22 . In weiteren Briefen wird die Nationalitätenproblematik des Reiches erörtert, die Schreiberin ist pessimistischer als ihr Gegenüber, dann folgt der verhängnisvolle 28. Juni 1914 und ihre Aufforderung»Über Sarajewo schweigen wir«, die aber nur in einem Brief Breuers überliefert ist und an die er sich nicht hält. 23 So bekennt sie sich zuletzt doch noch zu ihrer Sicht: »Freilich ist unsere Zukunft verschoben durch den Tod des äußerst energischen und willensstarken Erzherzogs[Franz Ferdinand, H. N]. Meine höchst unmaßgebliche Meinung ist(Sie wissen so gut wie ich, daß ich von Politik gar nichts verstehe), daß wir unter seiner Hand in den Abgrund gestürzt wären, während wir jetzt fortfahren werden, in den Abgrund zu gleiten. Jemand, der es wissen könnte, sagte mir, Erzh. Karl Franz Josef [der nunmehrige Thronfolger, H. N.] sei ein guter, unbedeutender Mann, aber die Erzh. Zita[von Bourbon-Parma, die Gattin des Thronfolgers, H. N.], die seine ganze Liebe und sein ganzes Vertrauen besitzt, habe das Zeug zu einer Maria Theresia.« 24 Offenbar dachte sie nicht an einen unmittelbar bevorstehenden Weltkrieg, sah aber die inneren Probleme Österreichs in jeder denkbaren Konstellation als gravierend an – und verband die Folgen des Attentats dennoch mit einer winzigen Hoffnung. Auch sie hat sich, wie offenbar unvermeidlich, die Wirklichkeit ein wenig zurecht gelegt, wie sie es wünschte, aber als Schriftstellerin mutwillig geschönt hat sie sie nicht und wiederholt hat sie Fontane die größere Strenge voraus. Paradiessehnsucht und Sozialromantik, wie sie in Bothos Gedankenspielereien vor dem ›Borsigschen Etablissement‹ anklingen, kennt Das Gemeindekind nicht; es schüttelt auch kein Krambambuli wie Rollo mit dem Kopf, wenn die Schuldfrage erörtert wird. Unprogrammatisch, aber mit disziplinierter Empathie hat»der gute Mensch von Zdisslawitz«, wie Gertrud Fussenegger sie nannte 25 , eine Lebenswelt beschrieben, die es nicht mehr gibt – wer also könnte sie ersetzen? Wer nach der Lektüre von Lübkes Rezension auf den Gedanken käme, sie habe mit ihrem Roman bewusst oder unbewusst gegen die Milieutheorie des französischen Naturalismus ankämpfen wollen, träfe sicherlich nicht den Kern, denn sie gestaltet nicht Vorhergedachtes, sondern gemäß der Situation, wirklichkeitsnah und konkret. Dass sie keinen großen österreichischen Gesellschaftsroman geschrieben hat, wie man gelegentlich kühl konstatierte, kann man es ihr ernstlich zum Vorwurf machen? Wie sollte der übrigens beschaffen sein? Ein Roman der sogenannten ersten Gesellschaft, wie Hofmannsthal diese, verklärt, für die Komödie aufgeboten hat( Der Schwierige, 1921)? Ein Roman
Heft
(2016) 101
Seite
18
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