Heft 
(2016) 101
Seite
19
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»Man kann sich kaum größere Gegensätze denken« Nürnberger 19 des Wiener Bürger- oder Großbürgertums, der Ringstraßenbourgeoisie? Das konnte Schnitzler besser( Der Weg ins Freie, 1908). Ein Roman der»im Reichsrat vereinigten Königreiche und Länder«, wie die cisleithanische Reichshälfte der Doppelmonarchie zu ihrer Zeit offiziell genannt wurde? Die großen Staatsromane, die nach Österreich riefen(oder mit ihm ab­rechneten), begannen erst ein Dutzend Jahre nach dem Tod Marie Ebners zu erscheinen. Den suggestivsten dichtete Joseph Roth, den Roman der Garnisonen in kleinen Städten und an der fernen Peripherie des ›Völker­kerkers‹, denn dort, wie er elegisch beschwor, war(noch) Österreich.( Ra­detzkymarsch, 1931). Den Roman der Monarchie, erstarrt in Erb- und Ebenbürtigkeitsfragen, samt spanischer Etikette, gebündelt um das trauri­ge Schicksal eines Unglücklichen, schrieb der aus Mähren gebürtige Pra­ger Journalist und Dichter Ludwig Winder mit sehr anderer, aber nicht geringerer Könnerschaft( Der Thronfolger. Ein Franz Ferdinand Roman, 1937). Marie von Ebner-Eschenbach, kinderlos verheiratet mit einem k. u. k. Feldmarschallleutnant, der die Wirkung von Seeminen erforschte, hätte, diese Vermutung sei erlaubt, den Radetzkymarsch mit Bewunderung aber auch mit Kopfschütteln gelesen; den Thronfolger mit Grauen. Sie wäre dann wieder zu Ferdinand von Saar, Stifter und Grillparzer( Der arme Spielmann, 1848) zurückgekehrt. Wenn man dem Scherzwort zustimmen mag, dass man auch im Burgtheater bereits Schnitzler nicht länger spielen kann, weil niemand mehr weiß, wie ein Leutnant zur Tür hereinkommt, ist es ja auch nicht anders möglich. Nur als Anmerkung sei bestätigt, die alte Gräfin, eine Libussa mit einem offenbar intakten Jungmädchenherzen, in­teressierte sich für das Militärische»bis zu meinem letzten Atemzuge«. 26 Roths Bezirkshauptmann hätte sie verstanden, ihn humorvoll selbst noch weiter zu skizzieren vermocht, Roths zumeist haltlose Offizierscharaktere hingegen(es handelte sich bei Trotta ja um keinen Einzelfall) entsprachen nicht ihrer Erfahrung und selbstverständlichen Disziplin. Vom menschli­chen Drama des Thronfolgers wusste sie, begriff mehr als sie sagen wollte (»Über Sarajewo schweigen wir«). In dessen bevorzugtem Wohnsitz Schloss Konopischt, von Zdisslawitz räumlich nicht weit entfernt, mit seinen unge­zählten Jagdtrophäen, hätte sie aber wohl kaum atmen können, die Über­bleibsel der von dem Este zu Tausenden in rasender Lust ermordeten Tiere mussten ihr unerträglich erscheinen. Künstlerisch interessierten sie die zerstörerischen Zwänge dieses von einem unerfüllten Machttrieb be­herrschten Menschen(der aber auch als ein vorzüglicher Familienvater galt) wohl nicht; ein Pavel Holub, das verachtete Gemeindekind, das sich behauptete und sich trotz aller ›Wirrnisse‹ seine sittliche Freiheit bewahr­te, war ihr ungleich wichtiger. Den»Forderungen des Naturalismus« zwar sprach dies»Hohn«(P. Sprengel) 27 , aber auf die war sie nicht vereidigt. Unverzagt stellte sie ihnen ihr Bild vom Menschen entgegen.