24 Fontane Blätter 101 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes Beilage zur Allgemeinen Zeitung. 1888. Nr. 63(Früher in Augsburg erschienen.) München, Sonnabend, 3. März. Neues von deutschen Erzählern 1.» Das Gemeindekind« von Marie v. Ebner-Eschenbach W.L. Seit Jahren verfolgen wir mit stets steigendem Interesse die Arbeiten einer edlen österreichischen Dichterin, in welchen sich die Feinheit weiblicher Beobachtung mit männlicher Kraft der Schilderung in seltener Weise verbindet. Marie v. Ebner-Eschenbach gehört in die Reihe jener deutsch-österreichischen Schriftsteller, die auf dem deutschen Parnaß einen Ehrenplatz einnehmen und, soweit die deutsche Zunge reicht, zu den Lieblingen der gebildeten Lesewelt zählen. Welch köstliche Frucht feinsten Humors hat sie uns noch vor kurzem in ihrer»Comtesse Muschi« beschert, wo sie das Treiben gewisser vornehmer Sportskreise mit unübertrefflicher Wahrheit und doch zugleich mit jener Liebenswürdigkeit, welche keine bittere Empfindung aufkommen läßt, treu nach dem Leben geschildert hat. Wir wollen nur an jenen prächtigen Zug erinnern, wie die junge Comtesse ihre Hündin mit den Jungen in die Bibliothek des Schlosses bringen läßt, als den einzigen Raum, in welchen nie ein Schloßbewohner sich verirrt, und wie sie dann außer sich vor Erstaunen ist, den auf Besuch anwesenden Vetter aus Schwaben dort zu treffen. Sie kann es nicht begreifen, daß man sich wirklich zum Lesen in die Bibliothek begeben könne, und als der Vetter sie fragt, ob denn sie niemals lese, und sie gesteht, daß sie es nur zur Abbüßung ihrer Sünden und zur Uebung im Englischen thue, und er wieder dagegen fragt, ob sie denn nie ein deutsches Buch lese, es gebe doch deren wunderschöne, da fällt sie ihm ins Wort:»oh, ich weiß, Goethe und Schiller, aber ich habe immer gehört, daß der Goethe unmoralisch ist und der Schiller der ist mir doch gar zu geschwollen.« Die neue Erzählung der Verfasserin, von der wir hier sprechen wollen, ist nun freilich von ganz anderem Schlage, tiefer, ernster, größer angelegt und von einer sich vielfach bis ins Tragische steigernden Macht. Die Erzählung spielt auf dem Boden, wo sich die Kindheit der Verfasserin abgespielt hat und dessen Land und Leute sie bis in die feinsten Züge ihres Sonderwesens unvergleichlich scharf erkannt hat und lebensvoll zu schildern weiß. Es ist die Provinz Mähren, wo deutsches und slawisches Wesen sich vielfach durchkreuzen, namentlich aber in dem niederen Volke jener starke slawisch-katholische Grundzug vorherrscht, der auch in den Hauptfiguren dieser Geschichte zum Ausdruck kommt. In der That führt
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(2016) 101
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24
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