Heft 
(2016) 101
Seite
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»Ist mir aber ein Apostel!« Müller-Seyfarth 43 der schulbildenden Lehren waren oft nicht minder gefährdet. Hatte man sich einmal für eine Lehre, Weltanschauung oder Religion entschieden, er­gaben sich oft gravierende Konsequenzen nicht nur für die eigene Lebens­führung. Apostel, Diener und Schüler des Auserwählten nahmen und neh­men die Folgen in Kauf, um für deren als für sie richtig erkannten Lehre einzutreten. Konvertiten und andere Neugläubige unterziehen sich seit Zeiten Exerzitien, die nicht selten in Kasteiungen enden. Ob sich unser Protagonist und Proselyt Carl Ferdinand Wiesike diesen Selbstquälereien aussetzte, weil er sich für die Ideen seiner selbstgewähl­ten Lehrer einsetzte, soll uns im Folgenden interessieren. Wir werden ei­nen praktizierenden Schopenhauerianer vorstellen, der sich in einem Al­ter, in denen die meisten am Ende ihrer aktiven Zeit sind, ohne Rücksicht auf materielle Kosten für Schopenhauers Philosophie einsetzte, nachdem er sich Jahrzehnte zuvor ebenso aktiv und kostennegierend für die die Schulmedizin provozierende Homöopathie Hahnemanns engagierte. Sein Engagement begründete keine Schule, er produzierte keine Sekundärlite­ratur, er unterließ Modifikationen an der Quelle und schuf kein akademi­sches Netzwerk. Seine Wirkung und Nachwirkung bestand einzig und al­lein darin, dass er seinen Überzeugungen gemäß handelte. Diese wiederum ließen ihn sich mit außergewöhnlichen Gründern des 19. Jahrhundert iden­tifizieren. Es waren der Begründer der Homöopathie Samuel Hahnemann­und der Philosoph Arthur Schopenhauer(mit dem noch jungen Schüler Schopenhauers Friedrich Nietzsche stand er ebenso in Korrespondenz). Ein weiterer Solitär, dem Wiesike zwar keine Weltanschauung oder al­ternative Medizin, aber eine verständniß- sowie vertrauensvolle Zunei­gung verdankte, ist Theodor Fontane. Seine Freundschaft mit Wiesike, die durch Briefwechsel und Fontanes Tagebuchaufzeichnungen verbürgt ist, mündet in eine literarische Darstellung, die Fontane im 6. Kapitel der Fünf Schlösser und vor allem in dem Nachruf auf Wiesikes Tod 1880 in der ­ Vossischen Zeitung(auf dem das Wiesike-Kapitel basiert) eindrucksvoll die außergewöhnliche Persönlichkeit Wiesikes nachzeichnen läßt. Eine Ne­benrolle bekam Wiesike noch im späten Roman Effi Briest, dem Fontane seine ansteigende Popularität verdankte. Doch alles der Reihe nach. Carl Ferdinand Wiesike wurde 10 Jahre nach Schopenhauer und 43 Jahre nach Samuel Hahnemann 1798 in Brandenburg an der Havel in eine Kaufmannsfamilie geboren. Nach dem dortigen Schulbesuch erlernte er wie sein späterer Meister Schopenhauer den Kaufmannsberuf und übte ihn einige Zeit in Berlin aus. Nach den von Fontane überlieferten bio­graphischen Informationen machte er sich dann in den 20-iger Jahren des 19. Jahrhunderts früh selbstständig und investierte in eine Geschäfts­idee, die seine unternehmerische Begabung und sein antizipatorisches Ge­nie auszeichneten. Durch seinen Aufenthalt in Berlin konnte der junge Wiesike beobachten, wie rasant sich der angehende Industriestandort und