»Ist mir aber ein Apostel!« Müller-Seyfarth 43 der schulbildenden Lehren waren oft nicht minder gefährdet. Hatte man sich einmal für eine Lehre, Weltanschauung oder Religion entschieden, ergaben sich oft gravierende Konsequenzen nicht nur für die eigene Lebensführung. Apostel, Diener und Schüler des Auserwählten nahmen und nehmen die Folgen in Kauf, um für deren – als für sie richtig erkannten – Lehre einzutreten. Konvertiten und andere Neugläubige unterziehen sich seit Zeiten Exerzitien, die nicht selten in Kasteiungen enden. Ob sich unser Protagonist und Proselyt Carl Ferdinand Wiesike diesen Selbstquälereien aussetzte, weil er sich für die Ideen seiner selbstgewählten Lehrer einsetzte, soll uns im Folgenden interessieren. Wir werden einen praktizierenden Schopenhauerianer vorstellen, der sich in einem Alter, in denen die meisten am Ende ihrer aktiven Zeit sind, ohne Rücksicht auf materielle Kosten für Schopenhauers Philosophie einsetzte, nachdem er sich Jahrzehnte zuvor ebenso aktiv und kostennegierend für die die Schulmedizin provozierende Homöopathie Hahnemanns engagierte. Sein Engagement begründete keine Schule, er produzierte keine Sekundärliteratur, er unterließ Modifikationen an der Quelle und schuf kein akademisches Netzwerk. Seine Wirkung und Nachwirkung bestand einzig und allein darin, dass er seinen Überzeugungen gemäß handelte. Diese wiederum ließen ihn sich mit außergewöhnlichen Gründern des 19. Jahrhundert identifizieren. Es waren der Begründer der Homöopathie Samuel Hahnemannund der Philosoph Arthur Schopenhauer(mit dem noch jungen Schüler Schopenhauers – Friedrich Nietzsche – stand er ebenso in Korrespondenz). Ein weiterer Solitär, dem Wiesike zwar keine Weltanschauung oder alternative Medizin, aber eine verständniß- sowie vertrauensvolle Zuneigung verdankte, ist Theodor Fontane. Seine Freundschaft mit Wiesike, die durch Briefwechsel und Fontanes Tagebuchaufzeichnungen verbürgt ist, mündet in eine literarische Darstellung, die Fontane im 6. Kapitel der Fünf Schlösser und vor allem in dem Nachruf auf Wiesikes Tod 1880 in der Vossischen Zeitung(auf dem das Wiesike-Kapitel basiert) eindrucksvoll die außergewöhnliche Persönlichkeit Wiesikes nachzeichnen läßt. Eine Nebenrolle bekam Wiesike noch im späten Roman Effi Briest, dem Fontane seine ansteigende Popularität verdankte. – Doch alles der Reihe nach. Carl Ferdinand Wiesike wurde 10 Jahre nach Schopenhauer und 43 Jahre nach Samuel Hahnemann 1798 in Brandenburg an der Havel in eine Kaufmannsfamilie geboren. Nach dem dortigen Schulbesuch erlernte er – wie sein späterer Meister Schopenhauer – den Kaufmannsberuf und übte ihn einige Zeit in Berlin aus. Nach den von Fontane überlieferten biographischen Informationen machte er sich dann – in den 20-iger Jahren des 19. Jahrhunderts – früh selbstständig und investierte in eine Geschäftsidee, die seine unternehmerische Begabung und sein antizipatorisches Genie auszeichneten. Durch seinen Aufenthalt in Berlin konnte der junge Wiesike beobachten, wie rasant sich der angehende Industriestandort und
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(2016) 101
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43
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