Heft 
(2016) 101
Seite
54
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54 Fontane Blätter 101 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte diesem Manne nicht wieder einläßt.[] Als Abschiedsgabe bekam ich eine gute Photographie von Sch(openhauers) Geburtshaus in Danzig und die Versicherung demnächst auch eine Photographie des Meisters selbst zu erhalten.« 33 Ein halbes Jahr später war von Gersdorf anlässlich der von Wiesike ausgerichteten Feier zum 81. Geburtstag Schopenhauers(er verstarb 72jährig 1860 in Frankfurt am Main) zu Gast in dessen Villa. Seine wirk­lichkeitsnahe, emotionale Schilderung an Freund Nietzsche ist eine per­fekte Vorlage zu einem lebens-philosophischen Einakter oder Dramolett: »Kurz nach drei Uhr war die gebetene Gesellschaft[] beisammen und setzte sich an den Tisch um ein Mahl einzunehmen, welches den direkten Gegensatz gegen die Verneinung des Willens bildete. Zu der kräftigen Hausmannskost wurden vom freigebigen Wirth Weine gespendet, wie ich sie zum Theil noch nicht getrunken hatte. Als Tischwein schwerer Marco­brunner, vorm Braten wurde der Silberpokal hereingebracht und ein Fla­sche Steinberger aus dem Bremer Rathskeller Jahrgang 1862 geöffnet zu der der Onkel einen Commentar gab, während er sie in das schöne Gefäß goß, worauf er eine kleine Rede, derb und kernig an uns hielt, den ersten Schluck nahm und dann um den Tisch herum auf Schopenhauers Anden­ken trinken ließ. Um aber der Feier keinen rein materiellen Anstrich zu geben, wurde nach dem Braten ein Capitel aus Schopenhauers Nachlaß ›Von ihm, über ihn‹ von Otto Lindner vorgelesen, von dem, obgleich es klar und wahr geschrieben ¾ der Anwesenden kaum ¼ verstanden haben kön­nen, weil ich zum Vorleser auserkoren so schnell las, daß sich der Onkel den ganzen Nachmittag nicht darüber beruhigen konnte und mir immer von Neuem Vorwürfe machte. Beim Dessert entspann sich wie immer eine lebhafte Disputation zwischen Krüger[Neffe Wiesikes und Freund von Gersdorfs; d. Verf.], dem Onkel und mir, dem passivsten Theil, die sich beim Abendessen fortsetzte, hauptsächlich über die Beweise vom Dasein Gottes handelnd. Krüger vertrat den Standpunkt Kants, daß die Existenz Gottes ebenso wenig behauptet und bewiesen werden könnte wie die Nichtexistenz, da dieß jenseits des Satzes vom Grunde läge, während der Onkel die Unmöglichkeit der Existenz Gottes als etwas Beweisbares und von Schopenhauer Bewiesenes hinstellte. Jeder behielt seine Meinung; ob der alte Herr nur zum Schein seinem Neffen opponiert hat, wird sich erst später herausstellen. In Gegenwart Anderer giebt er niemals nach, aber sobald Krüger allein bei ihm ist, sagt er ihm offen ob er nur zur beidersei­tigen Uebung gegen seine Ueberzeugung gesprochen hat oder nicht. Bil­lardspiel, Musicieren und lebhaft angeregte sonstige Unterhaltung füllte den Abend bis in die Nacht hinein. Wir haben auf Dein Wohl Steinberger 57er getrunken, und der Onkel, der Dir beifolgende kleine Photographie unseres Meisters schickt, wünscht, Du möchtest ihm den Dank dafür sel­ber persönlich bringen.« 34