Heft 
(2016) 101
Seite
55
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»Ist mir aber ein Apostel!« Müller-Seyfarth 55 Die Begegnung mit Wiesike fällt in eine Zeit, in der sich der Freundeskreis von Nietzsche und von Gersdorf mit Schopenhauers Philosophie beschäf­tigte und sie sich als wahrhafte Jünger des Meisters verstanden. Nietz­sches spätere Ablösung vom Schopenhauerschen Denken, speziell von sei­ner Willensmetaphysik, wurde von einem anderen Mitglied des damaligen Kreises nicht mitgetragen. Paul Deussen realisierte Jahrzehnte später die Ideen aus dieser losen studentischen Vereinigung und gründete 1911 die Schopenhauer-Gesellschaft und ein Jahr später das Jahrbuch der Schopen­hauer-Gesellschaft, das sich 1945 in Schopenhauer-Jahrbuch umbenannte. Eine Begegnung mit Nietzsche und Wiesike kam nicht zustande. Die ge­genseitige Wertschätzung wurde allerdings durch Korrespondenzen be­kräftigt. 35 Der dritte von Gersdorf an Nietzsche überlieferte Besuch bei Wiesike fand Pfingsten 1870 statt und die Schilderung macht seine abermalige Be­geisterung nachvollziehbar: »Bei seiner letzten Anwesenheit hier[in Berlin; d. Verf.], hatte ich ihm die erste Ausgabe der Welt als W. u. V. geliehen und ihm versprochen mir persönlich das Buch von ihm abzuholen. Ich habe mich deshalb vorige Wo­che für die Pfingsttage bei ihm angemeldet und wahrlich solche Pfingsten habe ich bisher noch nicht erlebt; ich muß an die Schläfe fassen und mich fragen ist das Traum oder ist es Wirklichkeit.[] Das waren Tage der Won­ne für mich. Der alte Herr von einer Liebenswürdigkeit, von einem derben Witz beseelt, der nach allem faden Lieutenantsgeschwätze das ich habe an­hören und theilen müssen, wirkte wie eine Seite Schopenhauer nach einer Predigt, bildete den steten Mittelpunkt der Unterhaltung, die sich oft über höchst ernste Dinge erstreckte, bald wieder das gesunde helle Lachen erregte, daß Stuhl und Zwerchfell wackelten. Hausregel in dem lieblichen kleinen Sanssouci dieses unbezahlbaren Originales ist: Hier kann jeder denken sprechen thun und lassen was er will, folglich, setzt der Wirth hin­zu, ich auch.[] Der Genuß einer solchen Persönlichkeit und der Gewinn eines Freundes, der mit Dir und Krüger mir das lange? Leben in der öden Welt verkürzen und verschönern hilft das sind Gaben, die ich so hoch halte wie die Apostel die Ausgießung des heiligen Geistes.[] R. Wagner findet aber in Plaue keine Gnade. Wiesike lebt in Mozart und Bach und Beethoven.­Von Wagner sagt er: ›Macbeth hat den Schlaf gemordet, Wagner hat die Musik gemordet.« 36 Mit der Ablehnung Wagners weiß sich Wiesike mit Schopenhauer ei­nig, da das Wagnersche Konzept der Oper als Gesamtkunstwerk ihm nur eine»barbarische[] Erhöhung des ästhetischen Genusses mittelst An­häufung der Mittell« 37 sei. Schopenhauer ließ einem Abgesandten ­Wagners für die Zusendung des ihm gewidmeten Ring-Librettos danken und gab ihm den Rat, daß»er[] die Musik an den Nagel hängen[soll], er hat mehr Genie zum Dichter! Ich, Schopenhauer, bleibe Rossini und Mozart treu.« 38