Gerhart von Graevenitz: Theodor Fontane Aust 67 mit seinen Teilungen und Verschachtelungen ganz nah an die Abstraktheit der modernen Verhältnisse heranzuführen.«(181) Als eines der ersten dichterischen Werke rückt unter der Überschrift »Gespenstische Verklärung« die Ballade Die Brück’ am Tay in den Blick. Ihrer Analyse geht eine Besinnung auf die realistische Poetik voraus:»Die Grundfigur dieser realistischen Poetik ist immer der Dreischritt einer Metamorphose der Realität und ihrer alltäglichen Dinge«(123): 1. Hinwendung zur»Realität der ›Bürger bei ihrer Arbeit‹«, 2.»Bearbeitung zum wissenschaftlichen oder künstlerischen Objekt«(das gilt als»ein ängstlicher halber Schritt zurück«), 3. Herstellung einer» poetische[ n] Realität«»aus den disjecta membra der bearbeiteten und erkannten Realität«(123 f.). Das klingt plausibel und griffig, wird aber der realistischen Poetik doch nicht ganz gerecht. Diese nämlich distanziert sich z.B. von dem ›Bearbeiten‹ als verdächtig subjektive Tätigkeit(Hettner) und sieht ihr Ziel nicht allein in der ›Illusionsbildung‹, sondern vor allem in der Anwendung von»Finessen«. Schritt eins besteht nicht nur aus Ab- und Hinwendung, sondern legt schon den Weg der Erkenntnis zurück, Schritt zwei vollzieht nichts anderes als Schritt drei. ›Täuschend‹ ähnlich wollen die Realisten nicht unbedingt schreiben, allenfalls ›gefühlt‹ ähnlich, aber dieses»Gefühl der Wirklichkeit«(Gottfried Keller) wäre ja erst der Eingang zur eigentlichen poetischen Realität. So ›prosaisch‹ der missliche Begriff der Verklärung klingen mag(vgl. 154), in Theorie und Praxis des Realismus fällt er komplexer aus. Von Graevenitz wird sich noch anlässlich der Fontaneschen Soll und Haben-Rezension(195–199) und bei der Entfaltung von Sempers»Bekleidungstheorie(215–219) mit Aspekten des Realismus beschäftigen, scheint aber bald die Geduld mit einem Thema zu verlieren, das, entgegen zahlreicher Bemühungen, doch nur von ›Provinzialismus‹ zeuge und zu aufdringlich den»Verklärungs-Tick«(343) verrate. Was die Tay-Ballade betrifft, exemplifiziere sie ein Grundmuster der »ängstlichen Moderne« bzw. die Dominanz des»Imaginären«: Eisenbahn, familiäre Sorge, Katastrophe, medial numinose Quasi-Erklärung, Blickund Lichteffekte, dazu die vielschichtige Teilungspoetik(Rahmen, spiegelbildlich angeordnete Binnenteile) demonstrieren Bauformen, wie sie auch in anderen Künsten(insbesondere Menzels Heckmann-Diplom und Das Eisenwalzwerk) und Selbstdarstellungen von Wissenschaft und ihren Protagonisten(Rudolf Virchow) vor Augen gestellt werden. Das führt zu keinem neuen Balladenverständnis(wie selbstverständlich ist von»Hexen« die Rede), demonstriert aber,»wie das Teilen[…] in den Realitäten der Moderne die Effekte des Imaginären« erzeugt(136). »Bilder und Balladen«, der zweite Teil(S. 183–337), erfasst die»Mythologien des Imaginären« von zwei Seiten: Zuerst rückt die»Sehgemeinschaft« des Deutschen Kunstblatts und dessen Blickfeld auf das mediale, politische und soziale Imaginäre in den Vordergrund, dann geht es um
Heft
(2016) 101
Seite
67
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