68 Fontane Blätter 101 Rezensionen und Annotationen »Fontanes Balladen«. Skizziert wird die»Umstellung eines neuen Begriffs von Imaginärem von den alten Vorstellungen über die subjektive Phantasie auf die Energien eines kollektiven Imaginären, das zum Schicksal wird für die Einzelnen und ihre Gesellschaft«(259), und als Thema der Balladen identifiziert. Berücksichtigt werden als Voraussetzungen Bürgers Lenore, Goethes Der Erlkönig und Heines Schlachtfeld bei Hastings. Fontanes Umgang mit dem Imaginären illustrieren Archibald Douglas unter besonderer Berücksichtigung der Strachwitzschen Douglas-Ballade, des Kaiser Friedrich III.-›Zyklus‹ und Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland. Das ist eine knappe Auswahl(dazwischen fällt der Blick noch auf das LurenKonzert und auf Abschnitte aus Ein Sommer in London und Der Krieg gegen Frankreich), aber es geht weder um eine Demonstration der Vielfalt noch um detaillierte Interpretationen(im Fall der Douglas-Ballade wird die»imaginäre Heilung« betont, die auch als Bewältigung der eigenen ›Wende‹-Probleme verstanden werden könne), sondern um den Nachweis einer mediengeschichtlichen Veränderung, bei der alte imaginäre Konzepte in neuem Rahmen verändert weiterwirken und teils traditionelle, teils moderne Funktionen übernehmen(erhellend das Verständnis der Ribbeck Ballade im Licht des Verführungsmotivs aus dem Erlkönig). Leitender Gesichtspunkt ist der ›zweiseitige‹ Körper im zeichentheoretischen Verständnis als Medium und Bedeutung, d.h.»imaginäre[r] Konstruktion«(265 f.). Literarisches Substrat dieser ›Verdoppelung‹ ist das Gespenst bzw. das Gespenstische. Hinzu kommt das Requisitenspiel mit Kapsel und Fahne, die den Akt des Umhüllens, Umschließens bzw. Begrabens anzeigen. Durch Wiederholung solcher Schichtungen entstehe ein»dichter Knäuel« (310) als Beitrag zum kollektiv Imaginären von spektakulären Medienereignissen wie dem Begräbnis Kaiser Friedrichs III. Diese medienpolitische Balladenpraxis macht sichtbar, wie eng Fontanes Balladen, die historische wie die numinose, mit seinen Gesellschaftsromanen zusammenhängen, auch wenn sich Fontane mit der Ribbeck-Ballade vom Genre verabschiedet habe. Eine»Mythologie des Imaginären«(Wolfgang Iser) liegt insofern vor, als sich hier»eine Art Genealogie des Imaginären«(329) abzeichnet. Sichtbar werde eine ›verschlingende‹»Urszene«(335), die Altes in neuer Verkleidung zeigt, aber auch in es eindringt und damit verändert(verliert hier nicht die Teilungsmetapher ihren Erklärungswert?).»Die Bild- und Literatursprachen, Strukturen und Ikonographien des politischen Imaginären und der politischen Öffentlichkeit sind letzten Endes das Thema.«(334) »Bilder und Romane«, der dritte und seitenstärkste Teil(S. 339–703), handelt vom Mischprinzip der Medien und Bilder sowie von den Ängsten der Moderne. Der Romancier Fontane erscheint als ein Autor, der sich in letzter Minute der»herrschenden Konjunktur« der»Privilegierung des Sehens« anschließt und»seine Erzählkunst von Anfang an als das anlegt, was den größten Erfolg versprach«(341). In diesem Sinn rückt er in die
Heft
(2016) 101
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68
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