Gerhart von Graevenitz: Theodor Fontane Aust 69 Gemeinschaft aller,»die ihr Erzählen am visuellen und imaginären Apparat der neuen Medien ausrichteten«(349). Konkret bedeutet dies, dass er als Erzähler die Formate des ›Genres‹, der ›Karte‹ und der ›Allegorie‹ benutzt, also Verfahren der Simulation, Konstruktion und Signifikation. Eingeführt und erprobt wird die Verwendung dieser Formate an David Copperfield, Vor dem Sturm und Krieg und Frieden. Ihr Einsatz, so das Ergebnis, konturiert eine»Konfrontation zweier Bildkulturen«(369), die zu einem»Krieg der Bilder«(371) führe, wie er nur von Tolstoi dank der»klaren Differenzierungen« zwischen Ost und West und anderen»Oppositionen« geschildert werde, während Fontane sich»mehr in den Anschaulichkeitstechniken seiner Zeit«(372) verfange. Dass Fontane vielleicht keine ›klaren Oppositionen‹ entwerfen wollte und Distanz zu Polarisierungstechniken seiner Zeit suchte(schließlich berücksichtigt er in seinem Bilderspektrum ›Bilder‹, die wie das Bild vom»Westwind« vertraute Oppositionen unterlaufen), spielt in dieser exemplarischen Darbietung keine Rolle. Verwunderlich sind auch die knappen Ausführungen zu Dickens. Um die Aufmerksamkeit auf die»Privilegierung des Sehsinns« zu lenken, hebt von Graevenitz die Eingangsszene hervor, die von der vorzeitigen Geburt Davids erzählt. Im Verein mit der Illustration von Phiz werden Aspekte des »komisch verdrehten Sehakt[s]«(354) präsentiert, verdreht deshalb, weil üblicherweise der Blick aus dem Fenster hinaus und nicht durchs Fenster hinein gezeigt werde. Das trifft zwar für die Illustration von Phiz zu(etwas undeutlich reproduziert, so dass die Mutter als entscheidendes ›Medium‹ dieser Szene nicht zu sehen ist), nicht aber für den Text. Im Text zu lesen ist, dass der alte David sich an den Bericht der Mutter erinnert, die zu erzählen pflegte, wie Tante Bessy von draußen herannaht und sich beim Hineinsehen die Nase platt und weiß drückt. ›Privilegiert‹ wird also nicht das Sehen, sondern das Schreiben, Erinnern, Berichten und dann erst das Sehen, aber mit den Augen der Mutter, die einen durch die Scheibe verfremdeten Blick sieht. Ist das im gewählten Zusammenhang egal oder so selbstverständlich, dass es nicht eigens erwähnt zu werden braucht? Schach von Wuthenow dient dazu, die Rahmenkomposition mit gedoppeltem Binnenteil und mit figuraler(allegorischer) Bedeutungsintention (»in der Art des Menzelschen Heckmann-Diploms, 375) zu belegen. Im Mittelpunkt stehen die Zacharias-Werner-Travestie als thematisierte Allegorie sowie Bülows und Victoires Briefkommentare. Beobachtet wird eine»Umwandlung, die Aushöhlung oder Überflutung des Realen mit den Effekten des Imaginären, die Fontane[…] darstellt und skeptisch betrachtet, die er aber, wie mit allem seinem realistischen Erzählen auch nach Kräften vermehrt«(394). Unterm Birnbaum, so heißt es schon zu Beginn der Studie, gilt als »Lehrstück[…] über die Wirkungen des Imaginären«(21). Demonstriert wird, in welche»Sehgemeinschaft« ein Autor sich begibt und welcher
Heft
(2016) 101
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69
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