Heft 
(2016) 101
Seite
71
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Gerhart von Graevenitz: Theodor Fontane  Aust 71 Vom Untertitel des Vorabdrucks»Eine Berliner Alltagsgeschichte« ausge­hend, wird Irrungen, Wirrungen als alltäglicher Grisettenroman identifi­ziert. Was seine»strukturelle Logik« betrifft, läge»eine erzählerische Um­setzung der Raumlogik des Genres«(490) vor. Lene, eine»senti­mentalisierte Grisette«(480) und Prostituierte, repräsentiere das ›niedere‹ und Käthe das ›höhere‹ Bild-Genre(vgl. 481). Die Großstadt-Szenen(Bothos Eindrü­cke) offenbaren eine Nähe zu Menzels ›Wimmelbildern‹(z.B. Piazza dErbe), unterscheiden sich aber hinsichtlich der Verarbeitung des Familien-Motivs (analytisch vs. affirmativ). Davon abgesehen erweisen sich Menzel wie Fontane als Mitglieder derselben»Sehgemeinschaft«(498), und grundsätz­lich heißt es:»Der immer noch an den alten Bildformeln haftende Moder­nismus Fontanes und Menzels bleibt der Modernismus des 19. Jahrhun­derts«(503). Noch also hat das»kollektiv Imaginäre« die hier erkennbar bleibenden»letzten Spuren des Individuellen«(504) nicht getilgt, und »Überfülle« als Signatur der Moderne erscheint»nur als Bedrohung« und ohne»Blick für ihre neuen Quellen der Phantasie«(504). Besondere Beach­tung findet das Todesmotiv. Im letzten Kapitel(VII:»Moderne Zeiten. Zeit der Ängste«) rücken zu­erst Frau Jenny Treibel, Mathilde Möhring und Die Poggenpuhls als»Trilo­gie von 1891« in den Blick, ›Trilogie‹ deshalb, weil hier ein»Wuchern der Unterscheidungen«(räumlich, zeitlich) auffällt und die»Faltungen der Dif­ferenzen«(mit Bezug auf Simmels Differenzierungsschrift) vergleichbar ausfallen. Dass manche Beobachtungen dieser Art auch für Werke außer­halb der imaginierten Trilogie zutreffen, wird durchaus eingestanden(von Graevenitz greift auf Tanzers»Doppelroman«-These(1997) zurück, hätte sich aber in Scheffels Rezension, FBl 69/2000, hinsichtlich der Tragfähig­keit solcher ›Vereinigungen‹ rückversichern können). Bemerkenswert ist die Verknüpfung des Motivs vom sozialen Gegen­satz mit Pieter Bruegels d. Ä. Streit des Karnevals mit den Fasten. Gleiches gilt von den familiären Aufstiegs- und Fallgeschichten. Gelungen erschei­nen Pointierungen wie»Zu viel Weiß wo Blau sein sollte«(550). Eher ver­wunderlich wirkt hingegen die Distanzierung von Richard Brinkmanns Deutung der»Halbheit«(²1977, 190, nicht 180 wie in Anm. 29), die von Graevenitz als»die in Altherren-Bonhomie gekleidete Unerbittlichkeit ei­nes alle und jeden erfassenden Differenzierungszwanges«(541) identifi­ziert. Im Kontext der erörterten ›Zwei Seiten‹-Abwägung klingt ›Zwang‹ verkrampft. Ziel der Analyse ist es, die»hochgradige verdichtete Synchronizität« (560) freizulegen, ›verdichtet‹ insofern, als nicht jede Parallele bzw. Wie­derholung synchron stattfindet, aber in dieser Bezogenheit dem Lazarus­schen Verdichtungskriterium entspricht. Freilich bleibt die entdeckte »Gleichzeitigkeit« insofern abstrakt, als sie nicht nur die Gleichzeitigkeit