74 Fontane Blätter 101 Rezensionen und Annotationen Richtung«(703). Das heißt: bestätigt wird, dass Der Stechlin einerseits als »Simulation« ein Zeitroman ist, andererseits eine»Konstruktion«, basierend auf Wiederholung und Entsprechung. Mit ›Simulation‹ ist die Fontanesche»Mache« gemeint,»die dem Roman seine Liebhaber gewinnt«(683), ›Konstruktion‹ betreffe das, wovon»Fontane nicht spricht«. Das ist eine merkwürdige Differenzierung, wenn man bedenkt, dass die hier angewandte strukturalistische Mustererkennung das zur Geltung bringt, was Fontane meint, wenn er von»Finessen« spricht. Das Kapitel schließt mit einer Revue der vielen»kleinen und großen Schrecken«(694), die dem vermeintlich zukunftsoffenen Roman eine blutige Angstspur einzeichnen. Dieses»Schreckliche« kann von Graevenitz deshalb so oft und deutlich hinter dem bloß Banalen oder Witzigen sehen, weil er allen diesbezüglichen Formulierungen bewusst die»Ironie«(687) nimmt und stattdessen das Groteske betont(freilich ohne auf Preisendanz’ Verbindung von ›Humor‹ und ›Groteske‹ einzugehen). So wird zum Beispiel der»Bomben-Briefbeschwerer«, von dem Dubslav spricht, zum Emblem und erhält eine»Schlüsselstellung« im Raum des Schrecklichen(693 ff.). Dass dabei auch Seltsames unterlaufen kann, zeigt die ›Überführung‹ des Pioniers Klinke als»Selbstmordattentäter«(696); und liegt ein typischer ›Fememord‹(701) vor(die Greeley-Geschichte), wenn der ›Richter‹ sich selbst dem Gericht stellen wird? Es ist unmöglich, auf engem Raum die Fülle der Detailerkenntnisse dieses Kapitels(wie der übrigen) anzuzeigen, geschweige denn zu kommentieren. Auf eine finale ›Finesse‹ sei indessen besonders aufmerksam gemacht. Da gelingt es von Graevenitz, die von Rex vorgeschlagene Namensumschreibung»Ciacco« als florentinisches Wort aufzulösen und also dem Florentiner Ghiberti das florentinische»Schwein« auf die»Hacken« zu setzen(703). Das ist wahrlich»ein derber Schlag«(vergleichbar mit der Wirkung der»Schmutz«-Lesung des Kleistschen»Schmerz«-Zitats), ›karnevalesk‹ in der Verkehrung des Menschen zum»Rüsseltier«. Dabei ist der Ciacco Dantes hier noch gar nicht ausdrücklich berücksichtigt, der wegen seiner Schuld im höllischen Regen sitzen muss und ein groteskes Pendant zum Namen des Schöpfers der ›Paradiespforten‹ bildet(und was hat wohl Czakos»Sapristi« zur Folge, sollte es auf eine ähnliche Rachegeschichte vorausdeuten, wie sie Boccaccio[IX,8] von seinem Ciacco, dem stadtbekannten Lecker- und Lästermaul, erzählt?). Aber vieles passt zu den Reflexionen über einen Roman, in dem die»Hölle lacht«(684), es fügt sich in die Reihe der niederländischen Genrebilder von Plaudern und Prügeln, selbst in die Geschichte der Berührungen mit Menzel. Ob und in welches ›kollektive Imaginäre‹ eine solche Ambivalenz der»neuen Tage« auf Schloss Stechlin Aufnahme finden wird, bleibt abzuwarten. In einem»Schluß«-Kapitel fällt der»Blick« noch einmal»aus dem Fluggerät«(705) und lenkt die Aufmerksamkeit auf die beiden grundlegenden
Heft
(2016) 101
Seite
74
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