Gerhart von Graevenitz: Theodor Fontane Aust 75 Begriffe des Imaginären und der Oberfläche. Das ist gut so, denn gerade das ›Imaginäre‹, das fast auf jeder Seite der Studie als junger Kollektivsingular eine entscheidende Rolle spielt, hat sich als eine schwer fassbare und hochkomplexe Instanz erwiesen, eine Bühne, auf der sich die Arbeit der Bilder, an ihnen und mit ihnen, innerhalb und außerhalb der Menschen, mit ihnen und gegen sie, hier und überall abspielt. Ein wahres Knäuel von Fäden individueller, gesellschaftlicher, kultureller und kollektiver Stärke (vgl. 609, 613), männlicher wie weiblicher Zurichtung(611), ein unlöschbarer»Speicher« für anschaulich gestaltete Ordnungen und Ängste, aus denen doch reale»Gewalt« hervorbricht(622). Und dies alles spielt sich auf ›Oberflächen‹ ab. Was bleibt nach einer Seite für Seite anregenden, stellenweise faszinierenden Lektüre? An erster Stelle möchte ich die längst fällige ›Begegnungsgeschichte‹ zwischen Adolph Menzel und Theodor Fontane nennen, voller Berührungen, Kreuzungen, Parallelen und Abstände(hinzu kommen viele andere ›Vergleiche‹, so mit Aby Warburg). Mit ihr verbunden sind die anderen ›Kontakte‹ mit Lazarus(samt seinem Schüler Simmel), dem Kuglerschen Kunstblatt und vor allem mit den illustrierten Familienblättern. Ob hier wirklich eine lebenslänglich verbindliche»Sehgemeinschaft« vorliegt, halte ich noch nicht für entschieden. Von Graevenitz neigt dazu, das Besondere zu dämpfen und das Gemeinschaftliche hervorzuheben. Das Besondere Fontanes gerät keineswegs aus dem Blick, aber je nach Entfernungseinstellung wird es größer oder kleiner, und so wirken auch die festgehaltenen Bilder der Fontaneschen Arbeit auf alle, die Fontane lesen, mal bedeutender, mal vertrauter. Die beeindruckende Leistung der Studie liegt im Panorama der Vielfalt, im Auf- und Abwickeln von»Knäueln«, in denen Menschen, Handlungen und Vorstellungen verwickelt sind. Wichtig ist die Zusammenschau der Werke, der Balladen, der Wanderungen, der Kriegsbücher und Romane. Augenfällig wird allenthalben, wie sich die ›gemischten Medien‹ durchsetzen. Eine Sache freilich, und die ist ärgerlich, muss noch erwähnt werden: Es gibt in diesem großen Werk einige Stellen, die unbefriedigend sind. Sie zu nennen, klingt angesichts des gedanklichen Reichtums, der Beobachtungsschärfe und des beeindruckend schweifenden Blicks zwischen Bild und Text beckmesserisch, sie stillschweigend zu übergehen, scheint aber nicht ratsam, denn sie fallen auf. Erster Anlass für das kleinlich wirkende Monieren ist die sorglose Schreibung des Innstetten-Namens(nur einmal gelingt sie auf S. 635). Natürlich beeinträchtigt das beharrlich unterschlagene»n« nicht das Verständnis; aber es macht skeptisch. Und in der Tat, wenn man einmal beginnt, nachzuschlagen, begegnen weitere Unstimmigkeiten. Zum Beispiel: Die Soll und Haben-Rezension erschien anonym 1855, nicht 1852(195). Der Vorabdruck von Unterm Birnbaum besteht aus 9, nicht 10 Folgen(444). Das Zitat aus der Gartenlaube(452, A 142, 770) findet
Heft
(2016) 101
Seite
75
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