Heft 
(2016) 101
Seite
81
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Theodor Fontanes Kunst des Toasts  Osterkamp 81 Allerdings ist jedem seiner Toasts anzumerken, dass Fontane über ein kla­res Verständnis für die soziale Funktion des Toasts verfügte. Was immer sein konkreter Anlass sein mag, das rhetorische Wirkungsziel eines Toasts besteht in der alle Konflikte des Alltags überspielenden Herstellung von Harmonie durch die symbolische Repräsentation eines Ausgleichs zwi­schen den um einen Tisch Versammelten. Wie genau Fontane diese Funk­tion vor Augen stand, zeigt der kostbare kleine Roman Stine, aus dem sich viel über Kultur und Unkultur des Trinkspruchs im deutschen Kaiserreich lernen lässt. Als Waldemar von Haldern dem alten Baron Papageno anver­traut, dass er sich gegen den Willen seiner Familie mit Stine zu verloben gedenke, und um dessen Rat für das weitere Vorgehen bittet, schließt der Baron das lange Gespräch damit ab, dass er eine Flasche Château Lafitte öffnet und»eine Gesundheit« auf Waldemar und diejenige, die in seinem Herzen wohnt, ausbringt:»Es lebe der Ausnahmefall.« Die Begründung des welterfahrenen Barons für dies Ritual lautet:»Hören Sie, wie das klingt. So harmonisch soll alles klingen. Ja, harmonisch, das ist das rechte Wort. Und nun Ihr Wohl, Waldemar.« 5 Was hier im Kleinen geschieht, charakterisiert auch die Wirkungsabsicht des Toasts in großer Gesell­schaft; seine zentrale Aussage lautet:»So harmonisch soll alles klingen.« Harmonie: sozialer Einklang, dies ist das Wirkungsziel des Toasts. Dessen Erlangung wird verbürgt dadurch, dass sich alle an das Ritual halten; wenn auch nur einer es in Frage stellt oder es durchbricht, ist die Harmo­nie unrettbar zerstört, und das wiederum kann tödliche Folgen haben. Bei den Germanen galt die Weigerung, das Zutrinken zu erwidern, also einem Zutrinkenden Bescheid zu tun, als schwere, nur durch Blut zu sühnende Beleidigung, und bei aller zivilisatorischen Mäßigung der Sanktionen gilt noch heute: Wer sich bei Tische weigert, mit seinem Gegenüber anzusto­ßen, tut dies in dem Bewusstsein, damit die Harmonie der Gesellschaft unweigerlich zu zerstören. Jeder Toast ist also zugleich ein Risiko; Fontanes­erzählerisches Werk wird sich dies zunutze machen. Im Übrigen hängt der deutsche Brauch, nach dem Gesundheittrinken mit den vollen Gläsern anzustoßen, ebenfalls mit einem profunden Verlan­gen nach sozialer Harmonie zusammen. Denn wenn in alter Zeit die bis zum Rand gefüllten Becher von allen Anwesenden gleichzeitig so kräftig zusammengestoßen wurden, dass die Getränke aus dem eigenen Gefäß in diejenigen der anderen hinüberschwappen konnten, dann war damit ge­währleistet, dass keiner der Beteiligten Gift in einen Becher getan hatte; so entstand im Augenblick des Zusammenstoßens der Becher im umfassen­den Sinne ein Einklang. Auch hier gilt bei allem zivilisatorischen Fort­schritt bis heute: Der Toast darf keinerlei Gift enthalten, das einen der An­wesenden gefährden könnte. Wer rhetorisches Gift in den Becher der Form gießt, setzt damit die Harmonie des sozialen Einklangs aufs Spiel. Dies ist im Übrigen auch einer der Gründe dafür, weshalb die Lektüre gedruckter