Theodor Fontanes Kunst des Toasts Osterkamp 85 zum anderen eine signifikante Disproportion im Aufbau der Texte, in denen oft mehr vom Dichter und seiner Suche nach poetischen Einfällen als von dem eigentlichen Anlass oder dem Lob des Adressaten die Rede ist; auf ihn kommt Fontane oft erst in der Schlussstrophe mit einer überraschenden Wendung zu sprechen. Dies sind Verstöße gegen die Dispositionstechniken der klassischen Rhetorik, mit denen Fontane gezielt seine ironische Distanz zu einer Gattung markiert, die er doch mit besonderer Virtuosität zu erfüllen sich vorgenommen hatte. Dass diese Verstöße nicht als Gefährdung des primären Ziels aller Toasts, der Herstellung sozialer Harmonie, wahrgenommen wurden, hängt mit einem Grundzug der literarischen Geselligkeit in Fontanes Welt zusammen, den er in Von Zwanzig bis Dreißig am Beispiel des Tunnels über der Spree in die Formel gebracht hat:»alles […] war humoristisch zugeschnitten, vielleicht mit etwas zu gewolltem Humor.« 14 Er hat mit dieser Wendung, ohne dies zu wollen, auch die Mehrzahl seiner lyrischen Toasts treffend charakterisiert. Ihr»gewollter Humor« war ein bewusst eingesetztes Mittel des Dichters, die ideelle Entleerung des Toast-Rituals gezielt zu überspielen. Statt, wie die Gattung es erfordert, jene Tugenden, Leistungen und Erfolge der Angetoasteten zu exponieren, die es überhaupt erst rechtfertigen, sie am Ende hoch leben zu lassen, feiern Fontanes Toasts das Ritual selbst, dessen Erfüllung längst zum Selbstzweck und damit hohl geworden ist: Und wären die Toaste so billig hier Wie Brombeer- und Preiselbeeren, Weil eine Sache billig ist, Soll man sie doch nicht wehren. Wohl ist es wahr, von Toasten schwillt An die Ellora-Mappe, Es bauscht sich rechts, es bauscht sich links Der Deckel und die Klappe; Wohl ist es wahr, nicht sind mehr neu Die Namen und die Normen, Und eine wahre Hungersnot Herrscht längst an Reim und Formen; 15 So die ersten drei Strophen eines immerhin zwölf Strophen umfassenden Toasts auf Henriette und Wilhelm von Merckel, den Fontane am 24. Februar 1860 vorgetragen hat und dessen – rhetorisch gesprochen – gesamte inventio aus der Suche nach der inventio besteht, bis in der zwölften Strophe unvermittelt ein Lebehoch auf die Merckels –»Hoch Immermann, hoch Immerfrau« 16 – der Sache ein Ende setzt. Der Sinn eines solchen Toasts besteht dann freilich nur noch in der Bestätigung gesellschaftlicher Harmonie durch die Erfüllung eines Rituals. Die ideellen Bindekräfte der Gesellschaft selbst, ihre ethischen Fundamente und ihre moralischen, ökonomischen, wissenschaftlichen Ziele sind dagegen nicht mehr Gegenstand
Heft
(2016) 101
Seite
85
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