90 Fontane Blätter 101 Vermischtes Gegenwart ausklammert, und dann der unvermutete und unvermutet kuriose Toast Tante Marguerites auf das Brautpaar, der zwar ungewollt das Todesthema mit der Erinnerung präludiert, wie Victoire ihr kleines Bouquet beim Verlassen der Tempelhofer Kirche auf ein Kindergrab geworfen habe, was aber glücklicherweise niemand bemerkt, weil Marguerite dies als ein Zeichen der Sympathie gewertet wissen will. So triumphiert denn in den beiden Toasts noch einmal die gesellschaftliche Konvention, die Schach so heilig ist, dass er um ihretwillen eine Todeshochzeit feiert. Kurz darauf erweist sich, dass die beiden Toasts Retardation und Peripetie in der Tragödie eines entleerten Ehrbegriffs sind. Es scheint zunächst, als hätten die beiden Toasts das erreicht, was immer Ziel des Toasts ist: Sie haben Harmonie gestiftet, so dass am Ende selbst Schach und Frau von Carayon vom»Hange nach Versöhnung« 25 wieder zusammengeführt werden. Dann aber erweist sich, dass alles nur Schein war; Schach hilft sich mit einem Schuss aus dem Leben, um einem, wie Bülow sagt,»Gesellschaftsgötzen« Genüge zu tun. 26 Das eben ist Fontanes Kunst des Toasts: Er lässt den Toast die inneren Widersprüche, die Konflikte und ideelle Leere einer Gesellschaft rhetorisch überspielen, um dann, nachdem er eine zum Untergang bestimmte Gesellschaft noch einmal hat hochleben lassen, die Konvention umso radikaler zerschellen zu lassen. Mit dieser harten Fügung von Toast und Katastrophe hat Fontane eine narrative Figur geschaffen, die er fortan immer wieder in seinen Romanen variiert. Gewiss gönnt er sich in seinen späteren Romanen sehr viel mehr Zeit zwischen den Toasts und dem Absturz als in der Erzählung Schach von Wuthenow, aber das narrative Muster bleibt doch immer das gleiche: Zunächst werden Toasts gesprochen, in denen die Risse und Verwerfungen, die sich allenthalben im sozialen Gefüge zeigen, überdeckt und die Probleme des Menschenherzens von der Phrase unterdrückt werden, dann erweist die Konvention ihre Brüchigkeit, und es folgt die Katastrophe. Aus diesem Grund sind die Toasts in Fontanes Romanen symbolische Brennpunkte des Geschehens; es ist, als werde in ihnen durch die Kraft des Rituals und der Rhetorik noch einmal zum Schein der Harmonie zusammengezwungen, was mit tödlicher Konsequenz auseinanderzufallen bestimmt ist. So geschieht es auch in Cécile, hier mit doppelt tödlicher Konsequenz, wobei Fontane diesen Roman zugleich dazu nutzt, Gerichtstag über seine eigenen lyrischen Toasts und deren leere Reimvirtuosität zu halten. Denn genau in der Mitte des Romans mündet ein Reimspiel auf die bei Tische gereichten Schmerlen, das von kompletter Inhaltslosigkeit ist, wie ein von Fontane gedichteter Toast unvermutet in ein Lebehoch auf Cécile:»Genug, genug der Reimerein auf Schmerlen oder Schmerle,/ Hoch, dreimal, unsre schöne Frau, der Perlen schönste Perle.« 27 Das krampfhafte Bemühen, sich auch auf das Ungereimteste noch einen Reim zu machen, ist die Grundanstrengung aller lyrischen Toasts. Wie gewaltsam diese Reime
Heft
(2016) 101
Seite
90
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