Heft 
(2016) 101
Seite
94
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94 Fontane Blätter 101 Vermischtes dazu, dass die Toasts in Serie gehen. Es ist, als gehe im Stechlin, Fontanes Roman über die Notwendigkeit des politisch-sozialen Wandels jenseits der Wünsche und Hoffnungen des einzelnen, die Welt des 19. Jahrhunderts unter permanentem Gläserklingen ihrem Ende entgegen; in keinem ande­ren Roman Fontanes werden so viele Toasts ausgebracht wie im Stechlin und in keinem anderen Roman Fontanes geschieht dies unter so geringem Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft, die sich hier perma­nent hochleben lässt. Die Todesverkündigung, die auch in diesen Toasts mittönt, gilt nicht mehr nur dem Schicksal eines einzelnen, sondern demje­nigen einer ganzen Gesellschaft. Nichts zeigt dies so deutlich wie Fontanes Einfall, in der Mitte des Romans den Patriotismus in einer Steigerung des schon in Effi Briest zur Karikatur verzerrten Rituals in das Stadium der Sklerose treten zu lassen: Da wird nach Dubslavs Wahlniederlage dem ur­alten Edlen Herrn von Alten-Friesack der Vorsitz bei der Tafel eingeräumt, und da dieser nun, wie das Ritual es verlangt, den Toast auf den Kaiser ausbringen muss, dies aber offensichtlich nicht mehr kann, macht sich Ba­ron Beetz zum Dolmetscher der Sprachlosigkeit des»götzenhaften« Alten: »[] als eine bestimmte Zeit danach der Moment für den ersten Toast da war, erhob sich Baron Beetz und sagte: ›Meine Herren. Unser Edler Herr von Alten-Friesack ist von der Pflicht und dem Wunsch erfüllt, den Toast auf Seine Majestät den Kaiser und König auszubringen. Und während der Alte, das Gesagte bestätigend, mit seinem Glase grüßte, setzte der in sei­ner alter ego-Rolle verbleibende Baron Beetz hinzu: ›Seine Majestät der Kaiser und König lebe hoch! Der Alten-Friesacker gab auch hierzu durch Nicken seine Zustimmung[].« Schon eilt ein Lehrer zum Flügel, und alle singen Heil dir im Sieger­kranz. 36 Diese von Fontane zur Groteske gesteigerte Variation auf den pat­riotischen Weihnachtstoast in Effi Briest mutet an wie die sarkastische Er­öffnung eines Totentanzes; das der Sklerose abgezwungene Lebehoch lässt jedenfalls nicht erwarten, dass die von Fontane geschilderte wilhel­minische Gesellschaft noch eine große Zukunft besitzt.»Götzenhaft« ist hier nicht nur der Alte, der das Ritual repräsentiert, ohne es noch zelebrie­ren zu können,»götzenhaft« ist der Patriotismus selbst, dem hier reflexhaft gehuldigt wird. Eine Gesellschaft, die sich mit entleerten Ritualen zu ver­ewigen sucht, statt im lebendigen Wechselspiel von Traditionsbezug und Veränderungsbereitschaft sich auf die Zukunft hin zu öffnen, ist zum Un­tergang verurteilt. Eben davon handelt Fontanes Roman. So oft deshalb auch im Stechlin die Toasts erklingen, so groß ist doch zugleich Fontanes Freude daran, sie missglücken zu lassen. Dies gilt be­reits für den Toast, den der alte Stechlin beim abendlichen Diner aus An­lass des Besuchs seines Sohns Woldemar und von dessen Freunden Rex und Czako ausbringt: das Präludium zu einer Fuge misslingender Toasts im Roman. Äußerlich geht zwar alles gut, wie man es bei einem Routinier