Heft 
(2016) 101
Seite
96
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96 Fontane Blätter 101 Vermischtes entfernt sitzt; es muss ihm bewusst sein, dass sein Vater mit dem Toast auf »die Damenwelt« auch eine empfindliche Lücke am Tisch identifiziert und damit ein lebensgeschichtliches Problem definiert hat, das zu lösen ihm selbst beschieden ist. Mit anderen Worten: Dubslavs Toast auf»die Damen­welt« stellt keineswegs sozialen Einklang her, sondern er hebt Asymmetri­en einer problematischen Gegenwart ins Bewusstsein, die ihre Lösungen noch nicht gefunden haben und sie innerhalb der Grenzen des Romans auch nur zum allergeringsten Teil finden werden. Es ist ein Toast auf eine aus den Fugen geratene Welt. Im Grunde enthält diese kleine Szene den gesamten Roman und seine politisch-soziale Problematik. Es liegt in der Konsequenz dieser Szene, dass es ausgerechnet Gundermann ist, der nach der von Dubslav Stechlin mit Erleichterung verlorenen Wahl am Ende einer mit reaktionären Ge­meinplätzen gefüllten Revancherede den Toast auf den Alten ausbringt: »Wir haben eine Revanche. Die nehmen wir. Und bis dahin in alle Wege: Herr von Stechlin auf Schloß Stechlin, er lebe hoch!« 39 Gundermanns von Fontane mit eminenter Lust an der Demolierung dieses Parvenus entwor­fene Rede und sein Toast markieren den negativen Höhepunkt des Romans, was umso schwerer wiegt, als sie dessen genaue Mitte bilden. Es ist klar, dass die ihnen zugrundeliegende Haltung nicht zur positiven Erneuerung der Gesellschaft beitragen kann, sondern die politisch-sozialen Risse ver­tiefen wird. Nicht einmal seine politischen Parteigänger finden sich in der Phrasenhaftigkeit der Rede dieses Bourgeois wieder, der bei allem nur den eigenen ökonomischen Erfolg vor Augen hat:»Weiß der Himmel«, sagt ei­ner von ihnen,»dieser Gundermann ist und bleibt ein Esel. Was sollen wir mit solchen Leuten?« 40 Nie zuvor ist in Fontanes Romanen so harsch über einen, dem der Autor das Privileg gönnt, den Toast sprechen zu dürfen, geurteilt worden; bis dahin waren es freilich soziale Integrationsfiguren, die die Toasts mit welchen Konsequenzen auch immer ausbringen durf­ten, jetzt aber ist es der Phänotyp der neuen Zeit, der ohne moralische Be­denken agierende Bourgeois, dem schon deshalb nicht am sozialen Aus­gleich gelegen sein kann, weil der Aufstieg sein einziges Ziel ist. Mit einem Wort: Gundermanns Toast ist nicht nur ein menschliches, er ist auch ein politisch-soziales Desaster. Und gerade deshalb entfaltet sich aus den Wor­ten dieses besitzegoistischen»Esels«, dem schon jetzt die Zukunft gehört, wiederum die Dialektik der Fontaneschen Toasts: Nachdem Gundermann ihn hat hochleben lassen, zieht sich der alte Stechlin aus dem Leben zu­rück; er greift nie wieder aktiv ins Geschehen ein und gibt sich fortan da­mit zufrieden, die wenigen, die ihn noch umgeben, in die Kunst des Ge­währen- und Geltenlassens einzuüben, bis er schließlich verlöscht. Die neue Bourgeoisie aber toastet sich die Repräsentanten des alten Preußen, die sich in friederizianischer Tradition einen Rest aufgeklärt-liberalen Denkens bewahrt haben, für immer vom Halse. Es ist, als habe Fontanes