Heft 
(2016) 101
Seite
97
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Theodor Fontanes Kunst des Toasts  Osterkamp 97 Roman mit Gundermanns Auftritt die Legitimität des Toasts als Form der öffentlichen Rede für immer suspendiert; er ist zugrunde gegangen an der ideellen Entleerung der Konvention, an der Entpersonalisierung des Ritu­als, an der Herrschaft der Phrase. Und doch gibt es danach noch einen Toast in Fontanes Roman: es ist derjenige, den Dubslav Stechlin im kleinsten Kreise auf seine Schwieger­tochter Armgard und auf die Erneuerung seines alten Hauses durch das leider blasseste Brautpaar der deutschen Literatur spricht. Er, den der Le­ser zu Beginn des Romans kennen gelernt hat als einen Virtuosen des Toasts in der ganzen Herkömmlichkeit der Redeform, tut sich nun unend­lich schwer damit, und auch dies erweist, wie fragwürdig im Verlauf des Romans der Toast als eine Form der von Konventionen stabilisierten Rede geworden ist. In seiner Not wendet der Alte sich an Pfarrer Lorenzen als einem Routinier der ritualisierten Rede, aber der weist das Ansinnen, ihm mit»irgend was, das in das Gebiet der Toaste gehört«, 41 auszuhelfen, mit dem guten Argument zurück, dass es dort, wo es um den einzelnen Men­schen, die Geschicke seines Daseins und die Geschichte seiner Seele zu tun ist, mit konventionalisierter Rede nie getan ist und deshalb der Redner mit demjenigen, was ihm auf der Seele und am Herzen liegt, offen und unge­schützt zu den anderen sprechen muss, die, auch wenn sie vielleicht gerade anderes bewegt, aufgrund der seelischen Offenheit des Redners die Mög­lichkeit gewinnen, mit ihm das Glück des Einklangs zu erleben. Lorenzen drückt dies so einfach aus, wie nur eine Figur Theodor Fontanes dies kann: »Mitunter ist eine Tischrede leicht und eine Predigt schwer, aber es kann auch umgekehrt liegen.[] Sie werden sehn, das Herz, wie immer, macht den Redner.« 42 So geschieht es dann: Dubslav Stechlin vergisst in seiner letzten Rede alle rhetorischen Schablonen und Floskeln, spricht ganz aus dem Herzen und mit dem Herzen und gewinnt damit, dass er dem Wunsch nach einer Erneuerung des Lebens in seinem alten Hause seelisch beweg­ten Ausdruck verleiht, die Herzen aller Anwesenden. Zum ersten Mal ge­schieht, was noch niemals zuvor bei einem der vielen Toasts in Fontanes Romanwerk geschehen war; es fällt der sehr einfache Satz:»Alle waren bewegt.« 43 Movere, seelische Bewegung, das von der klassischen Rhetorik vorgegebene Wirkungsziel aller Rhetorik: hier, wo einer die Konventionen vergisst, die Regeln der Rede abschüttelt und ganz von Herzen»irgend was« spricht,»das in das Gebiet der Toaste gehört«, wird zum ersten und einzigen Mal das Redeziel erreicht,»alle« in einer gemeinsamen Seelenbe­wegung zu vereinen. Das aber heißt, dass in einer ständig disharmoni­scher werdenden Welt nicht mehr die Formen der konventionalisierten Rede die Menschen zusammenzuführen vermögen, sondern nur noch die Sprache des Herzens und der unmittelbaren Mitmenschlichkeit, dass also eine Erneuerung der in ihren Ritualen und Phrasen erstarrten Gesellschaft nicht ohne eine Erneuerung der Sprache des Herzens zu haben ist.