98 Fontane Blätter 101 Vermischtes Das klingt nun ein wenig pastoral und ist dies vielleicht auch, aber es wird doch beglaubigt dadurch, dass diese Rhetorik des Herzens und der Mitmenschlichkeit ein wunderbares Vorbild im Roman selbst hat. Das Muster für Dubslavs aus der Kraft des fühlenden Herzens erneuerter Kunst der Rede ist nämlich ein Toast, der gar keiner ist, sondern allenfalls ein rhetorisches»irgend was«, das ohne jedes Gläserklingen auskommt. Es ist das am Ende des Ausflugs zum Eierhäuschen gesprochene Lebehoch auf den vor kurzem verstorbenen portugiesischen Lyriker und Pädagogen Joao de Deus, in das auch Pfarrer Lorenzen, sein Verehrer, einbezogen wird. Denn Joao de Deus setzte gegen den Sozialdarwinismus seiner Zeit eine Religion der Liebe, die er mit der Sprache des Herzens verkündete – und dass diese Liebe nicht allein auf die Erfüllung eines individuellen Glücksverlangens zielt, sondern auf die Verflüssigung erstarrter gesellschaftlicher Verhältnisse durch ein egalitäres Prinzip, bringt Woldemar in die Worte:»Aber Liebe giebt Ebenbürtigkeit.« 44 Auf einen Mann wie Joao de Deus einen konventionellen Toast auszubringen, wäre in jeder Hinsicht unangemessen gewesen, und deshalb kommt die Idee zu diesem Lebehoch auch erst jenseits der Öffentlichkeit des Ausflugslokals auf:»In dieser Notlage wollen wir uns helfen, so gut es geht, und uns statt andrer Beschwörung einfach die Hände reichen, selbstverständlich über Kreuz; hier: erst Stechlin und Armgard und dann Melusine und ich.« 45 So die Baronin. Das gattungsmäßig nicht mehr zu fassende»irgend was« dieser Worte, in dem das Verlöbnis von Armgard und Woldemar vorweg genommen wird, ist der schönste Toast in Fontanes Romanwerk, weil es alle Konventionen außer Kraft setzt und nur noch auf die Sprache des Herzens vertraut. Nach dieser Szene müssen die rhetorischen Anstrengungen anlässlich von Dubslav Stechlins Wahlniederlage doppelt schal und phrasenhaft klingen, denn sie haben der Liebe nicht und das Herz hat an ihnen keinen Anteil. Von den vieren, die sich hier über Kreuz verbinden, werden drei beim Toast des alten Stechlin auf seine künftige Schwiegertochter anwesend sein;»alle waren bewegt«, denn sie alle verstehen die Sprache des Herzens und der Liebe. So setzt der letzte Toast, der in Fontanes letztem abgeschlossenen Roman gesprochen werden kann – der noch folgende Hochzeitstoast wird bezeichnenderweise dem Hofprediger überlassen und nicht ausformuliert –, die rhetorischen Konventionen des Toasts für immer außer Kraft. Theodor Fontane hatte diese Konventionen in seinen jungen und mittleren Jahren mitgetragen und sie mit hemmungsloser Virtuosität bedient; er hatte freilich damit auch das Seinige dazu beigetragen, die zur leeren Schablone geronnenen Rituale des Toasts immer fragwürdiger werden zu lassen. Dass ihm dies selbst bewusst geworden ist, zeigt die Distanz, die er in seinen späteren Jahren zu der lyrischen Gattung des Toasts einnimmt. Wie fragwürdig ihm, der nur noch das»richtige Leben« und die Geheimnisse des»Menschenherzens« darzustellen sich vorgenommen hatte, das
Heft
(2016) 101
Seite
98
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