108 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte war, der Joao de Deus, da gab es eine Landestrauer, und alle Schulen in der Hauptstadt waren geschlossen, und die Minister und die Leute vom Hof und die Gelehrten und die Handwerker, alles folgte dem Sarge dicht gedrängt, und die Fabrikarbeiterinnen hoben schluchzend ihre Kinder in die Höh‘ und zeigten auf den Toten und sagten: Un Santo, un Santo. Und sie thaten so und sagten so, weil er für die Armen gelebt hatte und nicht für sich«(186). Das letzte Wort im Stechlin-Roman hat zwar nicht Pastor Lorenzen, wohl aber Gräfin Melusine, des christlich-sozialen Pastors ebenbürtige Gesprächspartnerin. Darin liegt nochmals eine besondere Pointe. Die bezaubernde Romanfigur ist auch im Zusammenhang mit der sogenannten »Frauenfrage« zu sehen. Denn zu den»großen Fragen« der Zeit gehörte der Kampf um die wirtschaftliche, rechtliche und politische Gleichstellung der Frau. Die»Frauenfrage« ist im Roman präsent in den sozialen Rollen, welche Armgard und Melusine in der Romanhandlung zugewiesen erhalten. Entspricht Armgard dem traditionellen Frauenbild, das sie in ihrer Herzensgüte und tätigen Hingabe an die Sache der Armen und Bedürftigen mit christlichem Leben erfüllt, so tritt mit Melusine eine moderne, gebildete, fast könnte man sagen: emanzipierte Frau auf; bezeichnenderweise möchte Tante Adelheid fast wetten, dass Melusine auch raucht(336). Es ist zwar noch ein auf ihre beiderseitigen Lebenskreise beschränktes Mitspracherecht, das beiden Frauen zusteht. Das Fortschrittliche jedoch ist wohl darin zu sehen, dass jetzt nicht bloß die»glückliche« Armgard diese gesellschaftliche Funktion zugesprochen erhält, sondern auch eine Geschiedene, eine »Unglückliche«, die sich im Dialog mit Pastor Lorenzen und dem mit ihm geschlossenen»Pakt« in die soziale und politische Diskussion einbringt und eben dadurch ihr Unglück überwindet. 157 Gräfin Melusine ist es, die im Weihnachtsgespräch in der Stechliner Pfarre den Sinngehalt des StechlinSymbols in Worte fasst(320). Und es ist wiederum Gräfin Melusine, der in Fontanes Vermächtnisroman das Schlusswort vorbehalten ist, jene Sentenz, die den Gehalt des ganzen Werks in ein einziges, nunmehr wie verklärt leuchtendes Wort zusammenzieht. In Melusines Schlusswort liegt der Akzent auf»Neu«, auf Weltoffenheit und»freiem Sinn«. Die Gräfin nimmt darin Bezug auf den anscheinend ausbleibenden Nachwuchs im Stechliner Schloss. Es sei»nicht nötig«, erklärt sie in ihrem Brief an Lorenzen, dass die alten Familien wie die Stechline, weil vermeintlich staatserhaltend, weiterlebten –»aber es lebe der Stechlin.«
Heft
(2016) 102
Seite
108
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