Fontanes politischer Altersroman Der Stechlin Zuberbühler 107 konstrukt jedoch übereinstimmenden»Revolution von oben« wurden deshalb die meisten Minister und Staatssekretäre ausgewechselt und durch dem Kaiser gefügige Gefolgsleute ersetzt, was zwar anfänglich, bei der Entlassung des hochqualifizierten Kriegsministers Bronsart im Sommer 1896, in der Öffentlichkeit noch»einen riesigen Lärm« 153 verursachte, im folgenden Jahr aber, als die entschiedene Reaktion Hohenlohes ausblieb, anstandslos über die Bühne ging. Damit vollzog Wilhelm II. mit dem entscheidenden Machtmittel der Krone, der Kontrolle über die Personalentscheidungen, praktisch einen Staatsstreich –»gegen die Reichs- und Staatsregierung, gegen den Reichstag und die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes, die ihm zunehmend kritisch gegenüberstand«. 154 Die Regierung verwandelte sich vollends in eine bloße Exekutive der kaiserlichen »Befehle«; der Reichskanzler sah sich zur»Strohpuppe« des Kaisers degradiert; aus den»verantwortlichen« Politikern wurden Beamte; die Postulate des Reichstags wurden vom Kaiser ignoriert. »Ich kenne keine Verfassung. Ich kenne nur das, was Ich will.« 155 Als Fontanes»politischer Roman«, Mitte Oktober 1898, posthum erschien, waren die Würfel gefallen – zugunsten jenes»Obrigkeitsstaates«, den Thomas Mann noch nach der Katastrophe des ersten Weltkriegs als die dem deutschen Volk angemessene Staatsform pries, weil sie es von der ungeliebten Politik dispensiere. Der Stechlin entwirft, schon in seiner unfeierlichen, heiter-espritvollen, humoristisch-ironischen Diktion, eine integrale Gegenwelt zum großsprecherischen, militaristischen, imperatorischen Gehabe und Gepränge des Wilhelminismus. Doch trotz aller Kritik an den absolutistischen Tendenzen des Zeitgeists und trotz aller Offenheit für den demokratischen Zug der Zeit hält die politisch-poetische Vision des Stechlin-Dichters an Ausgleich, Kompromiss, Versöhnung fest(34). Die Disposition zur Versöhnung von»Alt« und»Neu« ist bei den Protagonisten des Romans bereits vorhanden. Wie Dubslav von Stechlin, wie Graf Barby teils unbewusst alte und neue politische Grundeinstellungen in sich vereinen, so sucht auch Pastor Lorenzen konservative(34), liberale und sozialdemokratische Anliegen zum Ausgleich zu bringen. Woldemar, ebenso»liberal«(117) wie»großer Tolstojschwärmer«(152), wird nach seiner Rückkehr auf die»Scholle der Väter«, wie Lorenzen voraussieht,»so halb und halb« wieder ins Alte einlenken (439); und tatsächlich beginnt am Schluss des Romans»das alte märkische Junkertum, von dem frei zu sein er sich eingebildet hatte, sich allmählig in ihm zu regen«(461). Mit der Versöhnung von Alt und Neu sollte nach der »äußeren« auch die dringend notwendige»innere Einigung« der zerstrittenen Nation erreicht werden, eine»Versöhnung« der politischen Gegensätze, die mit Bismarcks Staatskonstruktion anscheinend nicht zu erreichen war. 156 Versöhnung aller Schichten der Nation aber war es auch, was Joao de Deus, von innen heraus und von unten herauf, mit seinem selbstlosen sozialen Tun im fernen Portugal zu erreichen schien:»Und als er nun tot
Heft
(2016) 102
Seite
107
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