Heft 
(2016) 102
Seite
106
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106 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte enden könnte«. 142 Auch im Stechlin fehlt es nicht an einer Vorahnung, dass das Regime des machtbesessenen jungen Kaisers trotz aller Sicherung durch Armee, Polizei und Staatsanwalt keineswegs vor einer Revolution ge­sichert sei. Zum Ausdruck kommt diese Ahnung in dem, was die hochsen­sible Melusine vom Todestor Traitors Gate im Londoner Tower und von den einstigen Warnungen Lord Palmerstons erzählt, die dieser an den eigen­mächtigen Prince-Consort, den Großvater Wilhelms II., richtete dabei auf den absolutistisch regierenden König Karl I. anspielend, der 1649 enthaup­tet worden war. Auf Woldemars Einwand, das liege,»Gott sei Dank, weit zurück«, antwortet Melusine:»Ja, weit zurück. Aber es kann wiederkom­men. Und gerade das war es, was immer, wenn ich da so stand, den größten Eindruck auf mich machte. Diese Möglichkeit, daß es wiederkehre«(259). 143 Wenn es freilich noch eines Beweises bedürfte, dass dem alten Fontane nichts an einer Provokation des Kaisers lag in seiner alles in der Schwebe lassenden Darstellung der schockierenden und den Kaiser wie die Hofge­sellschaft kompromittierenden Kotze-Affäre, dieses»größten Hof­skandals der frühen Wilhelminischen Epoche«, 144 ist der Beweis geliefert. 145 Doch in jenem Photo-Album mit zeitgeschichtlichen Berühmtheiten, in dem man bei einer künftigen Einladung des jungen Ehepaars Woldemar und Armgard im dannzumal renovierten Schloss Stechlin blättern wird, sind»obenan natürlich der alte Wilhelm und Kaiser Friedrich und Bismarck und Moltke [...] und Bebel und Liebknecht« vertreten(438), Wilhelm II. aber fehlt aus­gerechnet er, der mit dem Anspruch aufgetreten war, als ein»berühmter, von der ganzen Welt geachteter und gefürchteter Herrscher« anerkannt zu werden. 146 Fontane verweigert dem letzten Hohenzollernkaiser seine Aner­kennung als geschichtliche Größe. 147 Die Stechlin-Handlung spielt genau in jenen Monaten, in denen es die­sem Kaiser, von elementarem Machtwillen, von wie soll man´s nennen? Größenwahn getrieben, 148 gelang, hinter der überkommenen glänzenden Fassade des Kaisertums seine realitätsverweigernde und menschenverach­tende Vorstellung der»persönlichen Monarchie« durchzusetzen. Mit Hilfe seiner Hofberater und insbesondere seines»Busenfreundes« 149 , des ein­flussreichen Grafen Philipp Eulenburg, jenes in ihn, den jugendlichen Herr­scher, verliebten, ihn zur Ikone des Deutschen Reiches erhebenden und ihn taktisch generalstabsmäßig,»mit wahrhaft macchiavellistischer Durchtrie­benheit«, 150 beratenden Intimfreundes, errang Wilhelm II. den Gipfelpunkt seiner Macht den Durchbruch zur unbeschränkten Entscheidungsge­walt. 151 Der Widerstand der»verantwortlichen Regierung« scheiterte zu­letzt am Unvermögen des greisen Reichskanzlers Hohenlohe(Jahrgang 1819, wie Fontane), im Namen des Parlaments gegen die mit perfiden Um­garnungen und Drohungen operierende Bevormundungs- und Staats­streichpolitik des Kaisers und seines Intimus Front zu machen.(»Das ist auch wider meine Natur.«) 152 In einer stillen, mit Bismarcks Verfassungs-