Fontanes politischer Altersroman Der Stechlin Zuberbühler 105 Damit ein Reichstag zustande käme, der Budget und Gesetze einfach durchwinkt, müsste das Wahlrecht geändert, das heißt ein Staatsstreich durchgeführt werden. An solchen Staatsstreichplänen mangelte es in jenen Jahren nicht. 134 Gundermanns verächtliches Wort von der»Abstimmungsmaschine« soll ein Wahlsystem diffamieren, in dem erst jede Wählerstimme und dann jeder gewählte Abgeordnete gleichviel zählt,»ohne Rücksicht auf Abstammung, Stand, Beruf, religiöse und wissenschaftliche Lehrmeinung« 135 und vor allem ohne Rücksicht auf die Finanzkraft. Dieser angebliche»mechanistische Egalitarismus« 136 ist in den Augen der herrschenden Schicht die Negation der hierarchisch gegliederten»göttlichen Weltordnung« und damit gleichbedeutend mit Revolution.»Man könne doch nicht billig verlangen, daß der Reichskanzler nur soviel Stimmrecht habe wie sein Kutscher.« 137 Gundermanns Angriff gegen dieses Wahlrecht entstammt dem klassischen Argumentarium zur Verteidigung des preußischen Dreiklassenwahlsystems, auf dessen Grundlage das preußische Abgeordnetenhaus gewählt wurde. Aber selbst Bismarck musste zugeben, »daß ein elenderes Wahlrecht als das preußische nicht zu ersinnen sei«. 138 »Das allgemeine Wahlrecht«, erklärt die Vossische Zeitung,»ist eines der Grundrechte des deutschen Volkes. Wenn es zu einem für die Regierung ungünstigen Ergebnis führt, so sollte ihr das ein Beweis sein, dass ihre Politik unrichtig ist, nicht aber, dass das Wahlrecht nichts taugt. Die Verfassung kennt mit Recht nur einen auf breitester Grundlage aufgebauten nationalen Reichstag[...], und Herr v. Bennigsen hat treffend gesagt: ›Der deutsche Kaiser und der deutsche Reichstag sind an demselben Tage geboren worden‹«; 139 im Zusammenwirken von Kaisertum und Reichstag erblickte der führende nationalliberale Politiker die stärkste Garantie für den Zusammenhalt des Reichs. Aufhorchen lässt im Stechlin Molchows Bemerkung, der Reichstag sei »die beinah´ einzige Stelle«, wo man noch Kritik äußern und»was durchsetzen« könne(230). Tatsächlich versucht die Regierung des»neuesten Kurses« mit allen Mitteln, mit Zensurbestimmungen und Majestätsbeleidigungsprozessen,»die freie Meinungsäußerung außerhalb des Parlaments zu beschränken«. Ja»man fordert«, wie gezeigt wurde, sogar»eine Aenderung der Geschäftsordnung« des Reichstags,»um die freie Meinungsäußerung auch an der einzigen Stelle einzuengen, an der sie bisher verfassungsmäßig geschützt war.« 140 Die Vossische Zeitung warnt eindringlich vor solchen Machenschaften:»Die Freiheit der Tribüne, der Platz in der Volksvertretung ist ein Sicherheitsventil für den Staat. Schließt man dieses Ventil, dann allerdings kann die Spannung so stark werden, daß die Explosion erfolgt.« 141 In der allgemeinen Krisenstimmung setzte sich sogar in Regierungskreisen immer mehr die Befürchtung durch,»dass die Regierung Wilhelms den Übergang zur Republik bilden, ja sogar mit der Enthauptung des Monarchen
Heft
(2016) 102
Seite
105
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