104 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte ausgerichtet, ob sich soziale Reformen zugunsten der Sozialdemokratie auswirkten oder nicht 130 – ausgerechnet einem Sägemühlenbesitzer in den Mund gelegt wird. Wenn Gundermann aber den Sozialdemokraten»das Wasser abstellen« will(82), dann vertritt er die kompromisslose Strategie des Kaiserfreundes Stumm, und wenn er seinen Ausfall gegen die»Freiheit« nach dem an die Sozialdemokraten verlorenen Reichstagssitz mit den Worten beschließt:»Wir sind besiegt, aber wir sind glorreich Besiegte. Wir haben eine Revanche. Die nehmen wir«(229), dann propagiert er einmal mehr die»Revolution von oben«. Sah sich schon Reichskanzler Caprivi gezwungen, sich mit den autoritären Entscheidungen des Kaisers abzufinden, so wurde die Reichs- und Staatsregierung unter Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst mehr und mehr zu einem Verwaltungsapparat der kaiserlichen»Willensmeinung«. An diesem neo-absolutistischen Regiment wird im Stechlin unverhohlen Kritik geübt, wenn Czako sagt, dass»die Bismarckschen Nachfolger« ihre Tage im Reichskanzlerpalais»vertrauern«(121): es ist ihnen verwehrt, eine eigenständige Politik zu betreiben; sie werden zerrieben zwischen dem allmächtigen kaiserlichen Willen und dem Parlament. Der Reichstag, hervorgegangen aus allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen, ist noch die letzte Bastion, die dem Griff des Kaisers nach der absoluten Macht im Wege steht. Aber auch»das große Haus mit den vier Ecktürmen«(228), dieses»festeste Bollwerk der Freiheit«, 131 soll geschleift werden. Nach Gundermanns Meinung ist der Reichstag nichts anderes als eine»Abstimmungsmaschine«, nur insofern notwendig, als»das Geld für den Staat am Ende bewilligt werden muß«(228 f.). In den stürmischen Reichstagsdebatten über die»Umsturzvorlage« hatte der neuernannte preußische Innen- und Polizeiminister, Herr von Köller, ein Draufgänger und Kaiserfreund wie Freiherr von Stumm, nur eine Nummer hemdsärmeliger,»mit urwüchsiger Deutlichkeit« erklärt,»der Reichstag habe Gesetze zu genehmigen und Gelder zu bewilligen«, seine Ansichten hingegen interessierten die Regierung nicht. 132 Man will demnach die Volksvertretung zu einer»Bejahungs- und Bewilligungsmaschine« umfunktionieren.»Wir sollen also«, wie der Zentrums-Abgeordnete Groeber ironisch bemerkte, »eine Art Gesetzgebungsautomat sein, wo man auf der einen Seite die Vorlage hineinwirft und auf der anderen Seite die Gesetze herauskommen.« Gegen eine solche Zumutung erhebt er energischen Protest:»Wir sind nicht bloß dazu da, Gelder zu bewilligen und Gesetze zu machen, sondern wir haben ein verfassungmäßiges Recht dazu, bei der Verwaltung und der Ausführung der Gesetze mitzuwirken. Dem Reichstage ist der Reichskanzler verantwortlich für die Ausführung der Reichsgesetze, er hat uns auf alle Fragen, die sich auf die Verwaltung des Reiches beziehen, Rede und Antwort zu stehen.« 133
Heft
(2016) 102
Seite
104
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten