Heft 
(2016) 102
Seite
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116 Fontane Blätter 102 Rezensionen und Annotationen Nicole Kaminski: Literaturkritik ohne Sprachkritik? Theodor Fontane, Alfred Kerr, Karlheinz Deschner, Marcel Reich-Ranicki und Kollegen. Frankfurt/M.: Peter Lang 2015. 294 S.(Frankfurter Forschungen zur Kultur­und Sprachwissenschaft; 20) 56,95 Der Literaturkritik begegnen mindestens drei geläufige Vorbehalte. Sie sitze, erstens, im selben Glashaus wie das, worüber sie spreche, bringe sich zu ihren Gegenständen aber auf eine Distanz, mit der sie ihre an­gemaßte Richterposition zu sichern suche. Sie könne, zweitens, die Kri­terien, nach welchen sie urteilt, nicht ausweisen, habe wohl auch keine abseits einer subjektiven Empfindung, die sie absolut setze. Drittens sei sie institutionell immun dagegen, sich ihrerseits öffentlich der Kritik auszusetzen. Tatsächlich wird jeder Redakteur das Ansinnen, die kriti­sierten Autoren möchten auf ihre Kritiken an gleicher Stelle erwidern, von sich weisen mit dem Argument, das hieße die Büchse der Pandora zu öffnen. Die Arbeit von Frau Nicole Kaminski untersucht deutsche Kritiker und Kritiken der Jahre 1870–2000 im Rahmen der Literaturwissen­schaft, für die das Schweigegebot in Sachen Kritik-der-Kritik nicht gilt. Ihre leitende Frage ist, ob die Kritik in den vergangenen 13–14 Jahrzehnten dem Kriterium der sprachlichen Eigenheit und Qualität von literarischen Erzeugnissen die hohe Bedeutung beigemessen hat, die man ihr oft zugetraut oder zugewiesen hat(16). Vorweg wartet sie mit der These auf, dass in der Kritik mittlerweile»nicht nur die Spra­che, sondern literarische Kriterien im Allgemeinen zunehmend von außerliterarischen Aspekten, etwa politischen Überzeugungen, ver­drängt werden.«(20). Diese Behauptung ist indes etwas allgemein, so­dass sie die Wandlungen, denen die Arbeit nachgeht, nicht ganz zu­sammenfassen kann. Auch bezieht sie sich nur ansatzweise auf den diskursiven Raum(der nicht nur literarischen Öffentlichkeit), der Literaturkritik sowohl ermöglicht wie umfasst. Das Augenmerk der Arbeit gilt einzelnen Stationen der Literaturkritik-Geschichte. Sie en­den bei Marcel Reich-Ranicki und der pressure group einiger Autoren, die um die Jahrtausendwende ein Hamburger Dogma für valides Schreiben literarischer deutscher Prosa formuliert haben, beginnen aber, zum Glück, bei Fontane. Ihm, der über zwanzig Jahre lang für die Vossische Zeitung von den Aufführungen des Königlichen Schauspielhauses in Berlin berichtete, sowie dem Theaterkritiker Alfred Kerr, dessen frühe Artikel der fast 75-jährige zu schätzen wusste, gilt die erste Hälfte des Buches(Kap. 2–4). Anerkennung verdient, wie skrupulös es hier vorgeht. Selten, vielleicht noch nie hat jemand die durchaus meistenteils in Feuille­tons und Zeitschriften aufzufindenden verstreuten Stellungnahmen